Donnerstag, 18. Februar 2010

Wo liegt das Problem?


Bemerkungen zu dem Vortrag von Herbert Meißner über „Neue Fragen in der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im 21. Jahrhundert“ („Helle Panke“, 18. Februar 2010)


Herbert Meißner konstatierte, im 20. Jahrhundert und bis heute hätte die Entfaltung der Produktivkräfte das kapitalistische System, also auch seine Produktionsverhältnisse, gefestigt anstatt sie, wie von Karl Marx erwartet, als Fessel des technischen Fortschritts zu sprengen. Und noch für mehrere Generationen erwartet er keine revolutionäre Situation, die daran etwas ändern, eine „höhere Gesellschaft“ herbeiführen könnte. Wo liegt dann das Problem? In einem Denkfehler von Marx?

Wenn es eine objektive Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gibt (woran H. M. natürlich nicht zweifelt, er sucht nur nach der „einheitlich handelnden Kraft, welche die Herrschaft des Kapitalismus beendet“), so wäre doch zu analysieren, worin sie besteht, wie sie sich äußert und zu welchen Ergebnissen sie (ge)führt (hat). An statt einer umfassenden Darstellung der Veränderungen in den Produktionsverhältnissen kann hier nur auf das völlig veränderte Erscheinungsbild der heutigen Gesellschaft im Unterschied zu der des beginnenden 20. Jahrhunderts als Ausdruck eines evolutionären Wandels hingewiesen werden. Ob die heutige als eine „höher entwickelte“ Gesellschaft zu bewerten ist, sei dahin gestellt. Auf jeden Fall ist sie eine andere, eine sehr viel andere, durch neue Produktivkräfte hervorgebrachte! Für einen ganz gravierenden, damit verbundenen Wandel in ihrer Ökonomik halte ich dabei die Veränderung des Wesens des Geldes, die mit dessen Abkopplung vom Edelmetall als „Geldware“ (1971) einherging. Bis dahin war das Geld als Papier Vertreter dieser bestimmten Geldware (35 US-Dollar = 1 Feinunze Gold; und die auf den Dollar bezogenen Währungen entsprechend ihrem Dollar-Kurs) und als solcher Ausdruck von entsprechend viel Wert, also „einfacher gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit“ in Marxscher Terminologie. Jeder, der 35 US-Dollar (und sei es im Gegenwert anderer konvertierbarer Währungen) besaß, hatte darauf Anspruch (gegenüber der US-Notenbank). Und heute? Jetzt hat jeder, der Geld besitzt, nicht mehr (verbrieften) Anspruch auf eine bestimmte sachliche Ware bzw. in ihr als Wert ausgedrückte gesellschaftliche Arbeit, sondern auf einen entsprechenden Teil des von der Gesellschaft allgemein produzierten Reichtums an Sachen und Leistungen aller Art. (Das Geld selbst wurde so von einer „allgemeinen“ Ware zu einer „Bescheinigung“ für geleistete gesellschaftliche Arbeit, wie sie K. Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ für die „neue Gesellschaft“ erwartete.) Das bedeutet: Nicht mehr (speziell) das Gold von Fort Knox als Gelddeckung, sondern alles Produzierte, einschließlich Produktionsmittel, gehört der Gemeinschaft der Geldbesitzenden (ökonomisch gesehen, nicht juristisch!). Das ist ein ganz neues ökonomisches Verhältnis der Produzenten zueinander und zu den Produkten der Gesellschaft. Es charakterisiert die veränderten Produktionsverhältnisse der Gesellschaft. Und so wenig sich dieser Sachverhalt bisher auch im ökonomischen Theoriengebäude der Gesellschaft ebenso wie in ihrem ganzen Rechtsbewusstsein und Gesetzeswerk niederschlug – die jüngsten, bisher beispiellosen staatlichen Maßnahmen in aller Welt zur „Rettung“ des internationalen Finanzsystems waren bzw. sind der Ausdruck der, wenn auch nicht verstandenen, so doch wenigstens gespürten, neuen, objektiv gegebenen ökonomischen Bedingungen, des gesellschaftlichen Charakters der ganzen Ökonomik, die nicht privaten, sondern gesellschaftlichen Zielen, Zwecken und Maßstäben unterworfen ist. (Was natürlich nicht bedeutet, dass es keinerlei Privatsphäre mehr gibt! Aber diese betrifft einen sehr engen, direkten Lebensbereich des Einzelnen.)

„Wo also liegt das Problem?“, ist noch einmal zu fragen, wenn doch Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich verändert haben. Es besteht darin, dass das subjektive Moment der Gesellschaft nicht deren objektiven Bedingungen ihres ökonomischen Handelns entspricht, dass „Basis und Überbau“ der Gesellschaft sich widersprechen. Seine Ursache wurzelt im gesellschaftlichen Bewusstsein, das auf einem ökonomischen Theoriengebäude aus dem 18. und 19. Jahrhundert basiert (A. Smith als Vordenker des „Liberalismus“ und K. Marx als Begründer des „Wissenschaftlichen Sozialismus“). Alles ökonomische Denken der Gesellschaft pendelt seit reichlich hundert Jahren zwischen diesen Polen gesellschaftlicher Analyse und Heilssuche, gefesselt in deren Mustern, Schablonen und Dogmen. Und so können und wollen beide Lager nicht den Wandel sehen, der sich hinter ihrem Rücken vollzogen hat und nur durch Abstraktion zu begreifen ist, indem wir überkommene Begrifflichkeiten auf den Kern ihres neuen Wesens reduzieren. Das „private Unternehmertum“ – so sehr es auch glaubt, sein eigener Herr zu sein – wirtschaftet, durch Tausende (staatliche) Vorschriften und Einschränkungen der Gesellschaft gebunden (Ludwig von Mises sah darin bereits einen Akt der „Sozialisierung“), längst nicht mehr nach eigenem Gutdünken, mit seinem Vermögen und auf eigenes Risiko. Es tut nur noch (kann nur noch tun), was ihm im Rahmen eines gesellschaftlichen Regelwerks erlaubt ist. Es wirtschaftet weitestgehend mit dem Vermögen der Gesellschaft (der Eigenkapitalanteil der Unternehmen soll durchschnittlich etwa bei einem Viertel des Umsatzes liegen, der Rest ist geborgtes Geld – von der neuen Gesellschaftlichkeit dieses Geldes als „Anteilschein“ am Vermögen der Allgemeinheit einmal ganz abgesehen), und sein Risiko wird durch Versicherungen aller Art von der Allgemeinheit getragen. Der „private Unternehmer“ ist im Zuge der Entwicklung der Produktionsverhältnisse im vorigen Jahrhundert zu einem „Funktionär der Gesellschaft“ für die Organisation ihrer Wirtschaft in einem bestimmten Bereich und Maßstab geworden, ausgestattet mit bestimmten Kompetenzen und Verantwortlichkeiten sowie mit bestimmten Rechten und Pflichten im Umgang mit finanziellen und sachlichen Werten. Was ihn von einem Betriebs- oder Kombinatsdirektor realsozialistischer Prägung unterscheidet, ist vor allem seine viel größere (und in mancherlei Hinsicht, besonders was den Umgang mit Geld und Finanzen betrifft, zu große) Eigenverantwortung und Freiheit (Unabhängigkeit von „zentralen Planentscheidungen“ bzw. von gesellschaftlichen Normen). Gerade die mangelnde staatliche Einflussnahme auf das Geld- und Finanzsystem (eine Folge der falschen Vorstellung, es handele sich dabei um private Angelegenheiten) führte zu den wahnwitzigen Vorgängen in diesem ökonomischen Handlungsfeld und gab dem gesamten Wirtschaften mit der vermeintlichen „Kapitalverwertung“ eine desaströse Zielgröße.

Wo liegt der Ausweg? In der weiteren Anpassung bzw. Gestaltung des geistigen, politischen und rechtlichen Überbaus der Gesellschaft entsprechend den Erfordernissen ihrer ökonomischen Basis! Damit kann allerdings nicht gewartet werden, bis eine „revolutionäre Situation“ heranreift. Und auch eine solche würde die Probleme dieser Gesellschaft nicht lösen, solange sich diese Gesellschaft nicht im Klaren ist, worauf es ankommt, und mehrheitlich Willens ist, das Notwendige zu tun. Zuallererst bedarf es also einer geistigen Aufklärung dieser ganzen Gesellschaft bezüglich ihrer gegebenen Existenzbedingungen vor allem in ökologischer und ökonomischer Hinsicht. Dabei ist ein Verständnis des neuen Wesens von Geld und Finanzen in der heutigen Gesellschaft zu vermitteln sowie die Einsicht, dass die gesellschaftliche Reproduktion gesichert werden muss durch Regeln für das internationale Geld- und Finanzsystem, welche gewährleisten, dass Produktion und Verbrauch (Verteilung) des gesellschaftlichen Reichtums harmonisiert werden. Es bedarf dazu eines neuen ökonomischen Denkens (einer neuen Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Reproduktion als Gesamtprozess) und eines neuen allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstseins von dem veränderten Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der heutigen Welt und von der veränderten objektiven Rolle des Staates – nicht mehr als Herrschaftsinstrument einer bestimmten Klasse, sondern als Organisator des gesellschaftlichen Lebens im Interesse aller. Daher ist auch die Herausbildung eines solchen Bewusstseins der Gesellschaft nicht (mehr) Aufgabe einer bestimmten Klasse und ihrer Partei, sondern aller. Doch kann es sich dabei nicht um ein konkretes „Modell einer ideal erdachten und funktionierenden Gesellschaft“ („Sozialismus“) handeln, sondern um Prinzipien, eine Art Statut, welches die Gesellschaft in der Entwicklung ihrer Erscheinungsformen nicht in ein starres Korsett zwängt, sondern ihr Halt und Freiraum zugleich gewährt für ihr pulsierendes Leben und für ihre weitere dynamische Veränderung im 21. Jahrhundert.

Vom Autor veröffentlichte Bücher: „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“ (Projekte-Verlag, Halle 2005, 500 S.); „Gesellschaft im Irrgarten“ (NORA-Verlag, Berlin 2009, 148 S.)

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