Montag, 14. Mai 2007

Gläubiges Rätselraten

(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 10, 14. Mai 2007)

Drei Tage lang begeisterten sich mehrere Hundert Sozialisten während einer bundesweiten Konferenz in Berlin an dem Gedanken, dass die tot gesagten Ideen ihres großen Lehrmeisters Karl Marx wie Phönix aus der Asche des Realsozialismus auferstehen. „Marxismus für das 21. Jahrhundert“ lautete das Aktualität versprechende Thema. Doch die Vorträge – so wenigstens der subjektive Eindruck auf der Grundlage einer notwendigerweise stichprobenartigen Auswahl – wurden dem Anspruch von heute nur teilweise gerecht.



Zu oft noch fühlte sich der DDR-erfahrene Beobachter an die Vorwendezeit erinnert, war doch der Beifall der meist Überfünfzigjährigen aus dem Auditorium umso stärker, je kämpferischer die Vortragenden auftraten. Der neu erstandene Kampfeswille war beeindruckend, doch wenn man abends nach getaner Denkarbeit wieder in unserer Alltagswelt mit ihren Alltagsmenschen ankam, sich z. B. auf der Heimfahrt in der U-Bahn umschaute oder daheim zufällig die erstbeste Talkshow auf dem Bildschirm hatte, da mochte man sich schon fragen: Mit denen wollt ihr euren Sozialismus gestalten?

Und was soll diesen Sozialismus ausmachen, von dem da immer noch oder schon wieder die Rede ist? Eine „gerechte“ Welt ohne Ausbeutung, ohne Krieg, worauf sich die Erwartungen weitgehend reduzieren? Vergessen die Kämpfe in den 60er Jahren an der sowjetisch-chinesischen Grenze und das sowjetische Desaster in Afghanistan, die Sucht der großen Mehrheit des Volks der DDR sowie der Osteuropäer nach kapitalistischer Ausbeutung durch Befreiung vom Volkseigentum, das man verschenkte? Nein, beim nächsten Mal solle es demokratisch zugehen. Da war denn wenigstens Uwe-Jens Heuer beeindruckend offen, ehrlich und desillusionierend mit seiner Meinung – die er vor achtzehn Jahren so öffentlich nicht hätte äußern können -, dass es nämlich Demokratie, also tatsächliche Volksherrschaft niemals geben wird, weil Politiker, egal welcher Partei und in welcher Gesellschaft, immer (letztlich auch gewaltsam) ihre Macht sichern und ausüben müssen, denn das ist ihr gesellschaftlicher Auftrag. Es könne daher immer nur um Demokratisierung (heute Redemokratisierung) der gesellschaftlichen Verhältnisse, also um eine beständige Auseinandersetzung zwischen Volk und Staatsmacht (um mehr Rechte, Mitsprache und Anteil am gesellschaftlichen Reichtum) gehen. Und wann das sozialistisch sei und ob es überhaupt einmal Sozialismus geben werde, könne man heute nicht wissen, so Heuer, sondern nur glauben. Er glaube daran, und er scheute nicht einmal den Vergleich mit dem Christentum, das schon allein aus dem Glauben viel Kraft geschöpft habe.

Für einen im Osten Ausgebildeten besonders interessante, weil ungewohnte Sichtweisen und neues (anderes) Wissen vermittelnde Beiträge kamen von „West-Marxisten“ (überhaupt schienen viele Interessierte aus den alten Bundesländern angereist zu sein), beispielsweise von Joachim Bischoff (Redaktion „Sozialismus“, Hamburg) und Conrad Schuhler (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, München) in ihrer Auseinandersetzung über die Frage, ob und welche Rolle John Maynard Keynes bei der Überwindung der Krise der heutigen Gesellschaft spielen könne. Da erhielt die Debatte sogar auch größeren theoretischen Tiefgang. Die Frage, was denn nun der künftige Sozialismus sei und wie er erreicht werden solle, wurde dennoch nicht beantwortet - was zu erwarten war. Die Genügsamkeit von J. Bischoff, das Augenmerk auf die Bekämpfung der schlimmsten Gebrechen der heutigen Gesellschaft zu konzentrieren, stieß gerade bei konservativ sozialistisch Denkenden, die auf ihre nebulösen Sozialismus-Erwartungen bestehen, auf wenig Verständnis. Aus deren Sicht dürfte die ganze Veranstaltung ein gläubiges Rätselraten gewesen sein.

Aber ist diese messianische Erwartung eines Sozialismus, von dem jeder seine eigene Vorstellung hat, überhaupt real? Ein Skript („Gespenster von heute“), ausgelegt an einem der vielen Stände, beinhaltete einen Denkansatz, der nicht antimarxistisch, nicht gegen Marx gerichtet ist, aber kritisch danach fragt, was sich in der Welt seit Marx’ Zeiten verändert hat und was diese Veränderungen für die Gesellschaftsanalysen von Karl Marx bedeuten – nachzulesen in „Sozialismus“, Heft 5/2007. Darin werden die beiden für verschiedene Gesellschaftssysteme gehaltenen Erscheinungen (am Beispiel Chinas und der westlichen Welt) auf lediglich unterschiedliche, historisch bedingte Organisations- und Leitungsweisen gesellschaftlicher, insbesondere ökonomischer Entwicklung reduziert. Geworben wird für eine neue Aufklärung, mit der die Gesellschaft geistig zu befreien wäre von den Fesseln ihres Denkens, Wollens und Handelns, die als Gespenster sowohl des Sozialismus wie auch des Kapitalismus in den Köpfen der Menschen geistern. Die Logik solcher Überlegungen wurde während der Konferenz durch einen Diskussionsbeitrag offenbar, in dem (vermutlich von einem früheren Mitarbeiter einer DDR-Planungsbehörde) darauf hingewiesen wurde, dass die von der Sowjetunion in den 60er Jahren unterbundenen ökonomischen Reformbestrebungen im Falle ihrer Fortsetzung dazu geführt hätten, dass etwa ein Drittel der DDR-Betriebe in Konkurs gegangen wäre – mit allen sozialen Folgen wie Arbeitslosigkeit usw. Worin, ist daher zu fragen, hätte dann aber der Unterschied zwischen DDR und BRD bzw. zwischen „Sozialismus“ und „Kapitalismus“ bestanden, also worin bestand er wirklich?

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