Montag, 22. Januar 2007

Zwei Döner für Goethe

(Veröffentlicht in: „Das Blättchen, Nr. 6, 22. Januar 2007)Goethe liebte das Volk und bemühte sich um dessen Wohl. Aber er hegte „einen grundsätzlichen Verdacht gegen demokratische Majoritätsentscheidungen“, wie Walter Dietze in seiner Einleitung zur wohl letzten DDR-Ausgabe von Goethes Werken schrieb.
Flohmarkt im brandenburgischen Havelpark, dem auf der grünen Wiese errichteten Einkaufszentrum vor den Toren Berlins an der B5: Zwischen Händlern zahlreiche Damen oder Herren, die zu Hause aufgeräumt haben und denen manch nicht mehr gebrauchtes Stück zu schade ist, in den Müll zu wandern. Lieber überlassen sie es Bedürftigen für wenig Geld – etwa einen Anzug von Boss, vielleicht mit einem kleinen, kaum sichtbaren Fehler, für fünfzehn Euro. Wer hier sucht, hält Ausschau nach nichts Bestimmtem. Nur mal gucken, es lohnt sich fast immer, auch bei Büchern. Mein Blick fällt auf eine Reihe von Bänden, zwölf an der Zahl, Goethes Werke, Aufbau-Verlag, 5. Auflage von 1988. Was sollen die kosten, frage ich ohne wirkliche Kaufabsicht. Fünf Euro, meint die Frau. Pro Band? Nein zusammen, sie habe sie geerbt und die gleichen bereits zu Hause zu stehen, kommt die Antwort. Eigentlich brauche auch ich sie nicht mehr. Doch der Preis! Und die Frau, die mich wie bittend ansieht, den Büchern den Reißwolf zu ersparen! In zwei Plastetüten schleppe ich meinen neuen Reichtum also davon, vorbei am Stand des Türken, wo der Döner für zwei Euro fünfzig verkauft wird. Zwei Stück für einen ganzen Goethe!
Goethe liest man nicht alle Tage – zu Unrecht, wie mir daheim wieder einmal bewusst wird. Manches kenne ich ja von ihm. Hundert Seiten Einleitung hingegen fordern mich heraus. Goethe aus der Sicht eines Wissenschaftlers der DDR sechzehn Jahre nach deren Verschwinden im wiedervereinigten Deutschland nahegebracht zu bekommen ist etwas Besonderes, da doch viel Wissen, das einst Allgemeingut war, im Begriff ist - weil es nicht mehr in die Zeit passen soll - ignoriert und vergessen zu werden. Auch von manchem Funktionär (heute sagt man wohl Amts- oder Mandatsträger!) der Linken, die sich zerreißt im Streit um Begriffe, die zu Allgemeinplätzen verkommen und Programme zu unverbindlichem Papier machen. Was besagt schon beispielsweise das Adjektiv „demokratisch“, das Politiker fast ausnahmslos bei jeder passenden Gelegenheit im Munde führen, um sich zu legitimieren, und das Parteien unterschiedlichster Couleur – auch substantiviert - möglichst in ihren Namen aufnehmen, zumindest aber für ihre Selbstdarstellung gebrauchen. Es soll einen Grundkonsens deutlich machen, vernebelt aber nur mit seiner vielfältigen Deutbarkeit gravierende Unterschiede der Interessenlage bei der Berufung aufs Volk. Und wie verhält sich dieser angebliche Souverän unter der Flagge der Demokratie? Das Volk zog mit seinen Herrschern in die Weltkriege und ins eigene Verderben, unterwarf sich der Knute von Diktatoren ebenso wie der Vormundschaft von Parlamenten, wählte gar die eigenen Ausbeuter und Henker und tauschte im Zuge der großen Wende wie im Volksmärchen von Hans im Glück sein echtes Vermögen an Volkseigentum gegen das vage Versprechen blühender Landschaften. Es glaubt an das Wort Demokratie wie an das Wort Gottes.

Was das alles mit Goethe zu tun hat? Goethe liebte das Volk und bemühte sich um dessen Wohl. Aber er hegte „einen grundsätzlichen Verdacht gegen demokratische Majoritätsentscheidungen“, wie Walter Dietze in seiner hier erwähnten Einleitung zu Goethe schreibt. Goethe sei, heißt es da weiter, „nicht bereit, die Quantität einer mehrheitlichen Meinungsbildung als Kriterium überlegener Qualität anzuerkennen. Seiner Meinung nach dürfen Gedanken oder Überzeugungen nicht deshalb als klug oder richtig qualifiziert werden, weil ihnen möglichst viele zustimmen. Sich direkt an die Volksmassen zu wenden oder ihnen gar selbständige Aktivität in Staats- und Regierungssachen abzufordern ist Goethe niemals in den Sinn gekommen. Es scheint ihm absurd, Willensbildungen oder Sachentscheidungen einer Mehrheit allein deswegen anerkennen zu sollen, weil sie von einer Mehrheit ausgehen. So wendet er sich strikt und unverblümt gegen ein Mitreden der Massen, das er als Dreinreden empfindet, und als zumeist unverständiges dazu.“

Welcher Politiker könnte – wenigstens an der Macht – anders gedacht haben bzw. denken? Und welcher Wähler wollte von sich sagen, er könne die Kompetenz seines Favoriten beurteilen, geschweige denn der Experten Sachentscheidungen? Wenn die heutige hoch spezialisierte Gesellschaft, die nicht mehr vergleichbar ist mit der bürgerlichen Gesellschaft von vor hundert und mehr Jahren, ohnehin durch Lobbyismus gesteuert wird – welchen Sinn haben dann überhaupt noch Wahlen und Parteien? Der so genannte, auf Lenin zurückgehende demokratische Zentralismus scheint da, ungeachtet aller seiner Kinderkrankheiten, wesentlich weiter und mit seiner Selbstbetrachtung als Diktatur – wenn auch irrtümlicherweise des Proletariats - ehrlicher gewesen zu sein.

Der Klassiker Goethe mit seinen humanistischen Ansichten von der Stellung des Menschen als wirklichkeitsveränderndes Wesen in der Natur und von der Freiheit der Persönlichkeit, „wo und wenn sie produktiv wirken kann und wirkt“ (W. Dietze), überwand bereits die Illusionen der bürgerlichen Aufklärung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf der Basis des Privateigentums. Heute wird der menschliche Verstand wieder eingenebelt mit Phrasen, die wenigstens in einem Teil der Welt schon einmal überwunden zu sein schienen. Die zweite, das Eigentum der Gesellschaft als gesellschaftliches analysierende und akzeptierende Aufklärung harrt noch ihrer Fortsetzung. Sie sollte als eine zentrale Aufgabe der neuen Linken nicht nur der Teilnahme am Machtpoker dienen, sondern wirklich neues Denken, das den gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart und Zukunft entspricht, in dieser Gesellschaft als ganze vorbereiten und zum Tragen bringen.

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