Sonntag, 22. Oktober 2006

Vom Regen in die Traufe?

Rezension von: Jörg Roesler, „Ostdeutsche Energiewirtschaft im Umbruch in den 1980er und 1990er Jahren“, erschienen in „Sozialismus“, Heft 3/2006) nter der Überschrift Vom Kombinat zur Aktiengesellschaft; Oder vom Regen in die Traufe?

Anderthalb Jahrzehnte nach der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands beginnen sich die Reihen derer zu lichten, welche die DDR mit gestaltet hatten. Und auch in deren Rückschau verblassen die tatsächlichen Geschehnisse von einst. Was bleibt, ist meist die sehr allgemeine Erinnerung, dass da vieles unerträglich war, manches aber auch wert gewesen wäre, bewahrt zu werden. Was aber war das noch im Einzelnen? Und wie war das damals noch ganz genau? Wie und warum kam es bei uns, in unserem Umkreis, in unserem Betrieb erst zu diesem Desaster und dann zu dem Neubeginn, zum Erwachen aus einem Taumel in einer „neuen Gesellschaft“, wird sich manch einer fragen.
Wer nie in diesem Staat lebte, ihn nur aus der Konfrontation von Presse, Funk und Fernsehen oder von Grenzkontrollen bei Ein-, Aus- und Durchreisen erfuhr oder gar als Nachgeborener auf heutige Rückblicke anderer angewiesen ist, wenn er sich ein Bild von dem machen will, was sich einst sozialistisch nannte, vermag mit noch weniger Gewissheit als ein „ehemaliger DDR-Bürger“, sich die Wirklichkeit von damals ins Bewusstsein zu rufen.
Fundierte Rückblicke ermöglicht das Buch „Vom Kombinat zur Aktiengesellschaft“. Zwar beschränkt es sich im Untertitel auf die „Ostdeutsche Energiewirtschaft im Umbruch in den 1980er und 1990er Jahren“, doch ist es eben viel mehr als eine Firmengeschichte der „Vereinigte Energiewerke AG“ (VEAG) für den genannten Zeitraum – was ursprünglich laut Arbeitsauftrag das Ergebnis der Untersuchung sein sollte -, denn es reflektiert im Wesentlichen die typischen Erscheinungen und Probleme der DDR in Wirtschaft und Gesellschaft. Es liest sich mitunter so spannend wie ein Wirtschaftskrimi und so ergreifend wie ein Roman, denn es verbindet die ganz sachliche Auswertung objektiver Tatbestände an Hand von Archivalien aller Art und aller Leitungsebenen des ostdeutschen Energiewesens mit der Wiedergabe subjektiver Reflexionen vom Facharbeiter bis zum Direktor in persönlichen Befragungen als Zeitzeugen. Und so kann es geschehen, dass mancher, der das alles ehemals selber so oder ähnlich erlebte, nun bei der Lektüre noch einmal dieses Lebensgefühl von damals verspürt – ein seltsames Gemisch von Wut (manchmal sicher auch Verzweiflung) und Selbstwertgefühl dank eigener Leistung in der Produktion, von heißen Wünschen und schwer erfüllbaren Träumen und der großen Befriedigung, wenn sich dieser oder jener, mitunter auch „sehr einfache“ erfüllte; ganz anders als in der jetzigen „Überflussgesellschaft“.
Wer sich aber sozusagen als Außenstehender ein Bild von diesem verschwundenen Staatswesen machen möchte – aus ganz allgemeinem persönlichen oder auch wissenschaftlichem Interesse -, der kann gewiss sein, dass ihm ein Bild von den damaligen Verhältnissen entworfen wird, wie sie tatsächlich waren, nicht geschönt, aber auch nicht schwarz gemalt. Denn dafür spricht das wissenschaftliche Renommee der Autoren Prof. Dr. Jörg Roesler und Dr. Dagmar Semmelmann als ausgewiesene (Wirtschafts-)Historiker ebenso wie die ausführlich begründete Auswahl ihrer Quellen.
Der nachgezeichnete „Weg vom Kombinat der späten DDR zum privatwirtschaftlichen Konzern in den 1990er Jahren“ beleuchtet die Schwierigkeiten, vor die nicht nur die betroffenen Menschen – ob als Arbeiter, Angestellter oder „staatlicher Leiter“ gestellt waren, sondern mit denen sich auch dieses „System“ in seiner spezifisch deutsch-deutschen und internationalen Wettbewerbssituation auseinanderzusetzen, die es zu bewältigen hatte. Was letztendlich auf Dauer nicht gelang und den baden-württembergischen Professor und Mitglied des PEN-Clubs Michael Schneider von einer „historischen Mitverantwortung des Westens“ für die Gebrechen des realen „Sozialismus“ sprechen ließ.
Zwar kann der Leser mit der Lektüre des Buches den bedeutsamen Umbruch im Energiewesen Ostdeutschlands noch einmal nacherleben, doch wird ihm dessen Bewertung nicht leicht fallen. Auch das spricht für die unvoreingenommene Darstellung des Prozesses durch die Autoren. Wer wollte auch zwanzigtausend verschwundene Arbeitsplätze (von ehemals achtundzwanzigtausend vorhandenen) aufrechnen gegen die Freiheit eines jeden, zu reisen wohin er will? Lässt sich der Verlust bestimmter sozialer Ansprüche im Betrieb und weitgehender sozialer Sicherheit in die Waagschale werfen gegen ein für viele Menschen rasch verbessertes Lebensniveau, gegen ein stark verbessertes Warenangebot für die Bevölkerung oder beispielsweise gegen die Möglichkeit eines der Befragten, sich einen jahrzehntelang gehegten Wunsch zu erfüllen und eine eigene Fahrschule zu eröffnen?
Eine Bewertung des Prozesses ist auch insofern schwierig, als dieser Umbruch sich in scharfen Auseinandersetzungen in den Betrieben bei gleichzeitiger bedeutender Einflussnahme aus dem Westen vollzog um die Sicherung von Macht- und überhaupt von sozialen Positionen, um den Verbleib und das Schicksal dieses in vier Jahrzehnten erarbeiteten Volkseigentums, um Rechte und Pflichten in der neuen Situation usw. Diese Bewertungsschwierigkeit betrifft nicht nur den Gesamtprozess der Privatisierung, sondern auch einzelne damit verbundene persönliche Schicksale. Das drückt sich in den ambivalenten Stellungnahmen der Befragten aus. Für diese haben sich viele mit der „Wende“ verbundene Hoffnungen nicht erfüllt. Aber wenn sie nicht durch Dauerarbeitslosigkeit an den Rand der Gesellschaft gespült wurden, sehen sie sich zwar ganz allgemein in einer erheblich verbesserten, jedoch wiederum nicht prinzipiell veränderten Lage. Als Arbeiter und Leiter in der „volkseigenen“ Kombinatshierarchie „kämpften“ sie pflichtbewusst und aus tiefem Verantwortungsbewusstsein gegen Witterungsunbilden, Material- und sonstige Versorgungsprobleme, damit die Volkswirtschaft stabil mit Elektroenergie versorgt wurde, sogar in der dramatischen Situation, als nach dem 9. November 1989 ringsum die Werktätigen alles stehen und liegen ließen, um im Westen die hundert D-Mark „Begrüßungsgeld“ abzuholen. Und heute mühen sie sich an gleicher Stelle, im selben Betrieb zwar nicht mehr mit Versorgungsnöten unter dem Kommando einer zentralisierten, staatlichen Planwirtschaftsbürokratie ab, statt dessen allerdings unter dem Firmenzeichen „Aktiengesellschaft“ als „Arbeitnehmer“ von Aktionären - doch nicht weniger verantwortungsbewusst - mit einem viel strafferen Arbeitsregime in einem verschärften Konkurrenzverhältnis zwischen den Kollegen und mit der ständigen Sorge um den Arbeitsplatz und die eigene soziale Sicherheit in der Zukunft. Wo liegt und wie groß ist der Gewinn an Lebensqualität? – Eine Frage, die von den Autoren nicht gestellt wurde und die auch nur sehr subjektiv zu entscheiden wäre.
Jörg Roesler / Dagmar Semmelmann
Vom Kombinat zur Aktiengesellschaft
Ostdeutsche Energiewirtschaft im Umbruch in den 1980er und 1990er Jahren
Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2005
ISBN 3-8012-4152-1
ca. Euro 58,00

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