Donnerstag, 10. August 2006

Amerikas Geniestreich

(Erschienen in: „Junge Welt“, 10. August 2006 unter der Überschrift „Währung ohne Basis“, übernommen von weiteren Zeitungen und Internet-Redaktionen.)

Was würden Sie, liebe Leser, denken geschweige denn tun, käme jemand daher und lüde Sie ein, in wenigen Tagen gemeinsam des 35. Jahrestages der Weltrevolution zu gedenken? Das Wenigste wäre wohl die bekannte Bewegung mit dem Zeigefinger an den Kopf.

Und dennoch: Als der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Richard Nixon, am 15. August 1971 das Abkommen von Bretton Woods aus dem Jahre 1944 einseitig aufkündigte und in seiner sonntäglichen Fernsehansprache der verblüfften Welt mitteilte, die USA würden ihrer ehemals übernommenen Verpflichtung, je 35 US-Dollar gegen eine Feinunze Gold einzutauschen, fürderhin nicht mehr nachkommen (was bis dahin alle "Experten" der Finanzwelt für unmöglich gehalten hatten), da vollzog er mit einem Federstrich, ohne einen einzigen Schuss abzugeben und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, was Karl Marx rund 100 Jahre zuvor als die revolutionäre Aktion des internationalen Proletariats prognostiziert hatte.


Die Schüsse waren in den Jahren zuvor gefallen und das Blut in Strömen während des Vietnam-Krieges der USA geflossen. Die Entscheidung des Präsidenten war, obgleich – oder gerade weil – aus einer Notsituation heraus geboren, aus nationaler Sicht ein finanztechnischer Geniestreich - basierend,entgegen den Expertenmeinungen, auf dem "gesunden amerikanischen Menschenverstand", den es nach Ansicht des Buchautors Richard Ford immer gegeben hat -; auch wenn sie bei genauer Betrachtung als Eigentor des internationalen Finanzkapitals zu bewerten ist, dessen man sich bis heute wohl noch gar nicht bewusst geworden ist. Was war geschehen?

Supermacht in der Krise
Seit zweieinhalb Jahrzehnten hatte sich in der globalen Auseinandersetzung zwischen Ost und West dasjenige Lager, welches alle Welt für „den Sozialismus“ hielt, - wenigstens scheinbar - auf dem Vormarsch zur „Weltrevolution“ befunden. Zu dessen wichtigsten Stationen gehörten die Einverleibung Osteuropas in den sowjetischen Machtbereich und die Errichtung einer kommunistischen Herrschaft in China, die Brechung des Atombombenmonopols der USA und der erste Sputnikstart sowie die erste menschliche Erdumrundung im Weltraum durch die Sowjetunion, die Auflösung des Kolonialsystems – teilweise mit „sozialistischer“ Orientierung – und schließlich der Kampf um die Wiedervereinigung Vietnams unter kommunistischer Flagge. Jahrzehntelang hatten die USA „über ihre Verhältnisse“ gelebt, um ihre Vormachtstellung in der Welt vor allem militärisch zu festigen – auf Kosten der Wirtschaft und der Infrastruktur, deren Modernisierung vernachlässigt wurde. Den Konflikt in Vietnam hatten die USA zu ihrem eigenen Krieg gemacht. Finanziert wurde diese auf Weltherrschaft orientierte Politik durch zunehmende Staatsverschuldung, in hohem Maße auch gegenüber Westeuropa. Und das war umso leichter, als dafür noch vor dem Ende des zweiten Weltkrieges mit dem Abkommen von Bretton Woods günstige politisch-ökonomische Bedingungen geschaffen worden waren. Auf diese Vereinbarung, bezeichnet nach dem im US-Bundesstaat New Hampshire gelegenen Städtchen, wo sie am 27. Juli 1944 von 44 Staaten unterzeichnet wurde, hatten sich nach dreijährigen Diskussionen und Auseinandersetzungen führende Wirtschafts- und Finanzexperten der britischen und der amerikanischen Regierung geeinigt. Sie machte den US-Dollar zur Leitwährung der westlichen Welt, indem unter anderem ein System fester Wechselkurse der anderen Währungen gegenüber dem Dollar beschlossen wurde und die US-Zentralbank sich verpflichtete, Dollar in Gold einzulösen. Die USA waren völlig autonom in ihrer Währungs- und Geldpolitik, während alle anderen Mitglieder des Bretton-Woods-Systems ihren Wechselkurs gegenüber dem Dollar durch Devisenmarktinterventionen sicherzustellen hatten. Nur wenn sich dauerhafte Ungleichgewichte ergäben, sollte im Rahmen einer internationalen Vereinbarung der Wechselkurs verändert, also die entsprechende Währung auf- oder abgewertet werden können.

Gegen Ende der sechziger Jahre geriet der US-Dollar mehr und mehr „unter Druck“. Die Ursachen dafür lagen sowohl in der Entwicklung der Weltwirtschaft (Ergänzung des wachsenden internationalen Warenaustausches durch das zunehmende Bedürfnis nach freiem Kapitalverkehr, also Globalisierung aller ökonomischen Prozesse von der Investitions- und Produktionstätigkeit bis zu Dienstleistungen und Handel mit Waren, Geld und Wertpapieren) als auch in der (Weltmacht-orientierten) Politik der US-amerikanischen Regierungen. Solange die USA keine großen Außenhandelsdefizite aufwiesen, funktionierte das System von Bretton Woods ziemlich reibungslos. Als aber die USA begannen, ihre Hegemonialpolitik durch Erhöhung der umlaufenden Geldmenge (und damit indirekt durch die anderen Mitgliedsländer des Systems bzw. durch die auf Dollar-Basis handelnden Staaten) zu finanzieren, wurde die Welt mit Dollar überschwemmt. Die angeschlossenen Länder bzw. ihre Notenbanken mussten Dollar aufkaufen, um ihre Wechselkurse auf dem beschlossenen Niveau zu halten. Diese Kurse stimmten mit der ökonomischen Realität häufig nicht mehr überein. Schon 1969 entsprachen die Goldreserven der USA nicht einmal mehr den Dollarbeständen eines einzigen Mitgliedslandes (Frankreichs). Im August 1971 aber deckten sie nur noch zu einem Viertel die tatsächlichen Auslandsschulden ab.

Genialer Befreiungsschlag
Damit war der papierne US-Dollar zu einer höchst unsicheren Währung geworden. Denn die Wahrscheinlichkeit, das Versprechen seiner Einlösung gegen Gold zum Kurs von 35 Dollar je Unze im Falle einer allgemeinen Flucht aus dem Papiergeld wahrnehmen zu können, war auf 25 Prozent gesunken. Wer ihn besaß, versuchte, ihn schnell wieder loszuwerden und möglichst in Realwert (z.B. Gold) zu verwandeln. Und darum stieg der Goldpreis im freien Handel. Mitte Juli lag er bereits bei 40,40 Dollar je Unze (also mehr als 5 Dollar über dem amerikanischen Notenbank-Standard!), am 28. Juli schon bei 41, 975 Dollar und Tags darauf sogar bei 42,09 Dollar. In Europa wurden Vorsichts- und Abwehrmaßnahmen ergriffen. In der Schweiz wurde nach Angaben einer großen deutschen Wirtschaftszeitung vom 2. August 1971 unter anderem „in Aussicht genommen, die Flucht (von Geld) in die Schweiz unattraktiv zu machen durch eine Aufhebung (!) der Verzinsung dieser Gelder.“ Und zwei Tage später war an gleicher Stelle unter der Überschrift „Frankreich verschärft Abwehrmaßnahmen gegen den Devisenzufluss – Banken sollen spekulative Transaktionen ablehnen“ zu lesen: „Die Bank von Frankreich hat … in einem Rundschreiben an die zum Devisenhandel zugelassenen Banken das Niveau der Auslandsverbindlichkeiten dieser Banken auf dem Stand vom 3. August blockiert“ – was bedeutete, dass die Banken ihre Dollarbestände nicht weiter erhöhen durften. Zu allem Überfluss verzeichnete die New Yorker Börse nun auch noch Kurseinbrüche bei Aktien, so dass die Presse um den 10. August titelte: „Flucht aus dem Dollar und amerikanischen Aktien“, „Schweiz tritt die Bremsen gegen ‚hot money’-Zuflüsse durch“, „Bundesrepublik und Schweiz im Brennpunkt der Devisenmärkte“ oder „Hektik im Devisenhandel hält an“.

Zwar war schon seit geraumer Zeit für den September eine Tagung des Internationalen Währungsfonds geplant, auf der über einen Vorschlag der USA beraten werden sollte, „die Bandbreite, innerhalb der die Währungen gegenüber dem Dollar schwanken dürfen, von bisher ein auf drei Prozent beiderseits der Paritäten zu erweitern“, doch für solche Reförmchen, über die man sich zudem noch nicht einmal geeinigt hatte, war es Mitte August bereits zu spät. Angesichts der Dramatik der Situation blieb Präsident Nixon nichts anderes übrig, als dem Vorschlag seines Beraters Paul A. Volcker und anderer zu folgen und drastische Maßnahmen (wozu neben der Aufhebung der Goldkonvertibilität des US-Dollars auch ein Lohn- und Preisstopp sowie Handelsrestriktionen gehörten) zu ergreifen, die von Kommentatoren als „Jahrhundertvertragsbruch der USA“ qualifiziert wurden und bis zu ihrer Verkündung am 15. August 1971 für alle Welt „undenkbar“ waren. Viel weiter reichten die öffentlichen Einschätzungen nicht. Die neuen wirtschafts- und währungspolitischen Maßnahmen der amerikanischen Regierung hätten in der ganzen Welt eine fast totale Verwirrung ausgelöst, hieß es in Zeitungsberichten. Wegen der Unsicherheit über die Zukunft des Dollars und der übrigen Währungen wurden an nahezu allen großen Finanzzentren die Devisenbörsen geschlossen. Ebenso war der internationale Goldhandel „von größter Unsicherheit überschattet“ (die Preise stiegen auf bis zu 48 Dollar je Unze), zumal mit dem Londoner Devisenmarkt auch die dortige Goldbörse geschlossen blieb. Nach Meinung der führenden Währungspolitiker war die nun doch eingetretene „undenkbare“ Situation so zu interpretieren: „Da der Dollar zwar nicht de jure, aber doch de facto vom Gold völlig gelöst ist, ist erstens für die anderen Währungen die Bezugsbasis entfallen, und zweitens können sich die USA nicht mehr auf ihre Befreiung von der Interventionspflicht an den Devisenmärkten berufen. Der Dollar hat seine Vorzugsstellung eingebüßt …, er ist vogelfrei.“ Und dann interessierte die Welt des Kapitals vor allem nur noch die Frage, ob Nixon vor der Protektionisten-Lobby in die Knie gegangen wäre und es einen Abfall zum „Neo-Dirigismus“ gäbe, der die Freiheit des Kapitals beschränkte. Noch nüchterner betrachteten deutsche „Konjunkturforscher“ die Angelegenheit. Sie sahen „keinen Anlass für Sofortmaßnahmen“. Im Gegenteil: Die Dämpfung der Konjunktur, die von den neuen Kursverhältnissen ausging, sei eher erwünscht gewesen und ein „wertvoller Beitrag zur deutschen Stabilitätspolitik“. Bundesfinanzminister Karl Schiller zeigte sich erschreckt – „von der gegenwärtigen Tendenz, physische Kontrollen als Vademecum anzusehen und das Kräftespiel des freien Marktes zu opfern“. In solcherlei Statements erschöpfte sich im Wesentlichen die ökonomische Philosophie über den amerikanischen Präsidentenbeschluss.

Drei Jahrzehnte später rief Georg P. Christian in einem Aufsatz mit dem Titel „Vom kommenden Sturz des Dollarkapitals“ den amerikanischen Coup ins Gedächtnis und seine ganze Bedeutung ins Bewusstsein. Mit dem Aufkündigen des Abkommens von Bretton Woods, schrieb er, nötigte die Regierung der Vereinigten Staaten der gesamten Welt(-wirtschaft) einen Dollarstandard ohne jede Golddeckung auf. Seit diesem Tag sei jeder einzelne Dollar von Zig-Billionen in den USA und anderswo angelegten oder nach Anlage suchenden Buchgeldes in der US-Währung ein Zahlungsversprechen und Anspruch auf realwirtschaftliche Güter und Erträge aus der Nationalökonomie der USA. Zum Vergleich: Nominell lag das Gross Domestic Product Ende des Jahres 2000 bei 10 Billionen Dollar. Kein Problem, so scheine es, wenn man dieser Zahl die 26 Billionen Dollar Verschuldung gegenüberstellt: bloß das Zweieinhalbfache. Pikant werde der Vergleich aber erst dann, wenn man nach der Zahl schaut, die an Stelle der Goldreserve von 1971 die Solvenz zur Verschuldung abgeben müsste: die Gewinne der Unternehmen (ohne den Finanzsektor). Und die betrug im Jahre 2000 blasse 550 Mrd. Dollar. Die Verschuldung der Vereinigten Staaten war also, bemerkte G. P. Christian, Ende 2000 zu etwas mehr als 2 Prozent von der nominellen Mehrwertproduktion in der amerikanischen Wirtschaft als Solvenz gedeckt. Und für die Zukunft erwartete er noch geringere Werte.

Und abgesehen davon – Die USA entledigten sich 1971 jeglicher finanziellen Verpflichtung. Es war ein genialer finanztechnischer Trick zur Entschuldung des amerikanischen Staates bzw. seiner Bank. Die Zig-Billionen Dollar in der Welt repräsentieren überhaupt keine bestimmte Wertmasse mehr. Waren und Leistungen, die für dieses Geld einmal erworben bzw. verkauft wurden, sind längst verbraucht. Und wer dieses Geld heute besitzt, hat nur noch „Ansprüche“ in der Hand. Aber wem gegenüber eigentlich? Niemand in der Welt ist oder hat sich verpflichtet, seine Waren und Leistungen gegen diese Scheine und schon gar nicht in einem bestimmten Verhältnis zu verkaufen. Und mit den übrigen Währungen ist es seitdem nicht besser bestellt. Aller Handel beruht nur noch allein auf dem allgemeinen Vertrauen und der Hoffnung darauf, dass man mit diesem Geld auch künftig wie bisher kaufen kann und notfalls „der Staat“ die Sache schon richten werde – aller Ablehnung staatlichen Dirigismus’ zum Trotz.

Zunächst war – und ist immer noch – dieses Vertrauen vorhanden. Und es gab und gibt auch gar keine andere Möglichkeit, als mit diesen papiernen Scheinen zu handeln wie bisher, denn es ist seitdem kein „besseres“ Geld mehr in Umlauf. Die Weltwirtschaft musste sich damit abfinden und reagierte auf ihre Weise. Der Aufhebung der Golddeckung des Dollars folgten rasch die Beseitigung der festen Wechselkursrelationen und die Aufhebung der Einschränkung von Kapitalbewegungen. Ein Land nach dem anderen sah sich unter dem Druck der internationalen Märkte gezwungen, die nationalen Kontrollen aufzuheben. Die Folge war eine Reihe von verlustreichen Stürmen im internationalen Finanzsystem, die von Mal zu Mal heftiger wurden, aber durch internationale staatliche Absprachen und teils massive Eingriffe der Finanzbehörden immer wieder beigelegt werden konnten. Japan-, Mexiko- und Asienkrise gehörten zu den wichtigsten Meilensteinen dieser Entwicklung.

Ungewollte Vergesellschaftung
Mit zunehmendem Alter schwankt die bürgerliche Welt mehr und mehr zwischen dem Bedürfnis, der Freiheit der privaten Eigentümer keine Grenzen zu setzen, also die staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft zu beschränken, und dem Verlangen, sich ihrer gerade zu bedienen, wenn es darum geht, die ökonomischen Verhältnisse und vor allem die Kapitalverwertung zu sichern. Bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts beklagte der österreichische, später in die USA emigrierte Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises eine zunehmende „Sozialisierung“, die er in der Beschneidung privater Eigentumsrechte witterte und die soweit ginge, dass schließlich vom Eigentum nur noch der leere Name bliebe, der Unternehmer aber auf die Stellung eines am Ertrag beteiligten Angestellten herabgedrückt würde. Die Maßnahmen von 1971 nun betrafen nicht nur die Rechte privater Geld- bzw. Kapitalbesitzer, sondern veränderten direkt die ökonomischen Sachverhalte und Beziehungen, auch wenn dies gar nicht beabsichtigt war und man sich dessen bis heute nicht in vollem Maße bewusst geworden zu sein scheint. Denn mit der endgültigen Verwandlung des Geldes aus einer Ware (Gold) in ein reines Arbeitszertifikat wurde der Herausgeber dieses Geldes, also letztendlich der Staat, zum Schuldner gegenüber jedermann, der dieses Geld besitzt. Er, der staatliche Herausgeber, trägt die letzte Verantwortung dafür, dass dieses Papier seine „Geldfunktion“ erfüllt und mit ihm Waren nach Bedarfslage gekauft werden können, kurz, dass der gesellschaftliche Reproduktionsprozess funktioniert. Die Wirtschaft ist keine Privatsache mehr, sondern öffentliche Angelegenheit, und die Politik ist verpflichtet, sich ihrer anzunehmen. Nicht um „Vergesellschaftung“ geht es heute mehr, sondern um eine den Erfordernissen gerecht werdende Wirtschafts- und Finanzpolitik – in welchen Organisationsformen und Dimensionen auch immer. Diese „Bestätigung für geleistete Arbeit“ postuliert staatlich sanktionierten Anspruch auf das geschaffene Produkt entsprechend der gegebenen Arbeitsmenge. Das Produkt selbst hat so seinen privaten Charakter verloren, ist vergesellschaftet worden. Mit dem Präsidentenbeschluss der USA aus dem Jahre 1971 wurde also das Kapital enteignet, ihm sein privater Charakter genommen; und zwar weltweit, weil bzw. soweit die anderen Währungen vom Dollar als Leitwährung abgeleitet waren und nun ebenfalls ihre „goldene Basis“ verloren haben. Eine weltweite Veränderung der Produktionsverhältnisse wurde vollzogen. Karl Marx hatte dies in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ mit den Worten angekündigt: „Womit wir es hier zu tun haben, ist eine … Gesellschaft, … wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert … und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat … soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück."

Auf den ersten Blick scheint dieser Vergleich angesichts der heutigen Realität absurd zu sein. Doch Marx konnte nicht ahnen, dass die „Muttermale der alten Gesellschaft“, besonders die bis zur sinnlosen Selbstzerstörung reichende Gier nach Geld und Profit sich einmal als solche schlimmen Pestbeulen und Krebsgeschwüre der menschlichen Gesellschaft erweisen würden. Außerdem sollen hier nicht die skandalösen Erscheinungen der heutigen Gesellschaft gerechtfertigt, sondern das Wesen ihrer ökonomischen Beziehungen erhellt werden, über welches sich diese Gesellschaft noch immer den allergrößten Illusionen hingibt, von denen die Vorstellung von Geld und Reichtum vielleicht die verhängnisvollste ist. Doch immerhin tritt allmählich die Problematik wenigstens als dunkle, mehr gefühlte als erkennende Ahnung auch ins bürgerliche Bewusstsein; beispielsweise, wenn im Frühjahr der „Stern“ mit einer Serie über die „Geschichte des Kapitalismus“ aufwartete und feststellte, der Kapitalismus habe eine neue Stufe erreicht, aber er drohe auch seinen Sinn zu verlieren, denn Geld sei „nur noch dazu da, mehr Geld zu schaffen, ohne Umweg über Fabriken, Waren, Arbeitsplätze“. Wer mag sich auch schon die ganze Wahrheit eingestehen, dass man seit geraumer Zeit mit dem Eifer von geradezu Besessenen nur noch einem Phantom nachjagt?

(Der Autor veröffentlichte Ende vorigen Jahres eine ökonomische Analyse der modernen Gesellschaft, auch mit einer neuen Sichtweise auf die jüngere Geschichte. – H. Hummel: Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum. ISBN 3-86634-048-6, Projekte-Verlag, Halle, 500 S., 38,25 €)

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