Montag, 4. September 2006

83 - und zwei Putzstellen

(Veröffentlicht in: „Das Blättchen“, Nr. 18, 4. September 2006)

Wie weit geht es in Deutschland bergab? – Bis zum Tiefsten Punkt der Bundesrepublik. Dieser liegt 2,2 m unter dem Meeresspiegel und befindet sich im sogenannten Freepsumer Meer, westlich des Dorfes Freepsum, das heute zur Gemeinde Krummhörn in Ostfriesland gehört. Die Hafenkrähne der Stadt Emden sieht man von hier aus in der Ferne gerade noch ebenso wie die Hallen der VW-Werke, in denen manch Einheimischer schon wieder vor drohenden Entlassungen bangt.



Die Stelle, an der es tiefer nicht geht und zu der man sich am besten mit dem Rade begibt, ist insofern nicht ungefährlich, als man hier immer noch, vor allem im übertragenen Sinne, ins Wasser stürzen kann, wie es meiner Urgroßmutter im Jahre 1900 tatsächlich und direkt geschah, vermutlich als sie Entengrütze für das Federvieh aus dem Graben, hier Schlot genannt, vom Steg aus schöpfen wollte und dabei ertrank, denn schwimmen zu lernen hatte sie als Kind weder Zeit noch Gelegenheit gehabt. Arbeiten war angesagt gewesen. Seinerzeit befand sich hier mitten im Feld ein kleines, von meinen Vorfahren bewirtschaftetes Anwesen mit zwei windbetriebenen Schöpfmühlen, welche das umliegende, der See um 1770 abgerungene Land entwässerten. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Auch an Ostfriesland ging der Fortschritt nicht vorbei, nistete sich technisch beispielsweise in Gestalt hunderter Windkraftanlagen ein. Die Gegend, deren Bewohner vor fünfzig Jahren, als ich die Ferien bei meinen Großeltern auf dem Lande verlebte, noch keine Wasserleitungen kannten und allein auf den aufgefangenen Regen angewiesen waren, weil der Boden nur ungenießbares Brackwasser führt, hatte Teil am „Wirtschaftswunder“ der Altbundesrepublik – kein Wunder bei dem sprichwörtlichen Fleiß der Ostfriesen. VW war dafür ein Symbol. Doch seit der kleine „böse rote Bruder“ im Osten, Sozialismus genannt, der das Kapital das Fürchten gelehrt hatte, 1989 verschwand, geht es auch hier – allen Fleißes zum Trotz – nicht nur topografisch bergab. In den Montagehallen des großen Autobauers beklagen die Arbeiter am Band, dass sie pro Woche nur noch fünfmal sechs Stunden arbeiten dürfen und so an die dreihundert Euro pro Monat Lohneinbußen hinnehmen müssen – eine Menge Geld nicht nur für Familienväter. Auch die öffentlichen Haushalte und Kassen leiden darunter, haben längst die Schmerzgrenze der Verschuldung erreicht, vermögen nicht mehr zu leisten was ihnen früher möglich war. Dem Volk wird von der Herrschaftselite vorgeworfen, es habe viele Jahre lang über seine Verhältnisse gelebt. Nun müsse man den Gürtel enger schnallen, heißt es, für weniger Geld mehr arbeiten, später in Rente gehen.

Daran erinnerte mich an einem der heißen Julitage dieses Jahres eine nicht eben mehr jung aussehende Dame, die offensichtlich etwas orientierungslos mit dem Fahrrad in der Hand vor dem Hause meiner Cousine im Dorfe Uttum stand, wo ich besuchsweise weilte. Etwas erschöpft wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und wurde eingeladen, sich im Garten ein wenig zu erfrischen. Die gute Frau nahm dankend an, setzte sich und berichtete, sie befände sich auf dem Rückweg von Greetsiel, wo sie ihren Augenarzt besucht hatte, nach dem heimatlichen Hinte. Und nun könne sie eben hier nicht erkennen, wo der Radweg weiter verläuft. Noch ehe ihr dies zu erklären war, bemerkte sie, dass im Garten Bohnen geerntet wurden, um auf ostfriesisch Platt, das ich zwar einigermaßen verstehe, aber nicht spreche und noch viel weniger in der Schriftform wiedergeben kann, festzustellen, sie ernähre sich auch nur von Gemüse, esse schon seit fünfzig Jahren wegen ihrer Allergien weder Fleisch noch Fisch noch Eier. Ja, wie alt sie denn sei, war zu fragen. Dreiundachtzig, antwortete sie. Und da habe sie noch die Kraft, die fünfzehn Kilometer von Hinte nach Greetsiel und zurück mit dem Rade zu bewältigen, bei mehr als dreißig Grad Hitze? Ja, das mache ihr nichts aus. Sie sei das gewöhnt, habe ja noch zwei Putzstellen – in Hinte und in Emden -, da fahre sie regelmäßig mit dem Fahrrad hin.

Ich war baff. Und bis heute ging mir die Frau nicht aus dem Sinn. Eine Alte, die Grund hätte zu klagen, tat das nicht. Die gedarbt hatte war kräftig und gesund. Die mit der Arbeit alt geworden war blieb frisch. Wer darf heute – in jungen Jahren – noch arbeiten lernen?

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