Mittwoch, 22. Oktober 2003

Berichte aus dem Irrenhaus

Bei einer Gesamtstaatsverschuldung von 6,3 Billionen Dollar verzichtete US-Präsident G. W. Bush auf Steuereinnahmen aus Aktiengewinnen im Umfang von insgesamt rund 670 Milliarden Dollar über zehn Jahre, um so, wie er glauben machen wollte, die amerikanische Wirtschaft anzukurbeln. Und führende deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute bewerteten diese Maßnahme auch noch "grundsätzlich positiv".US-Präsident Bush hat – Presseberichten zufolge – beschlossen, durch die Abschaffung der Steuern auf Aktiengewinne und andere Maßnahmen im Umfang von insgesamt rund 670 Milliarden Dollar über zehn Jahre die amerikanische Wirtschaft anzukurbeln, obwohl das derzeitige Haushaltsdefizit der Regierung bereits bei 159 Milliarden (2002) liegt und ihre Gesamtverschuldung sogar bei 6,3 Billionen Dollar. Die Schulden aller öffentlichen und privaten Haushalte in den USA belaufen sich auf stattliche 30 Billionen Dollar, das jährliche Bruttoinlandsprodukt dagegen auf zirka 11 Billionen. Schon heute müsste das ganze amerikanische Volk etwa 3 volle Jahre völlig umsonst arbeiten, um seine Gesamtschulden abzustottern. In Deutschland ist die Lage wenig besser. Hier wäre zwei Jahre ohne Lohn und Gehalt zu arbeiten, um den Schuldenberg zu beräumen.

Ungeachtet dessen äußerten sich führende Wirtschaftsforschungsinstitute Deutschlands „grundsätzlich positiv“ über das Vorhaben der US-Regierung. „Sollte die wichtigste Volkswirtschaft der Welt auf diese Weise wieder in Schwung kommen“ (der Konjunktiv drückt die Unsicherheit der Forscher aus), „sei auch mit einer Stabilisierung der gesamten Weltwirtschaft zu rechnen. Unter Umständen seien die Maßnahmen auch in Deutschland nachahmenswert.“ Michael Grömling vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft meinte, die Steuerbefreiung der Aktienerträge „macht Aktien als Investitionsobjekt wieder interessanter, und davon profitiert auch die Wirtschaft.“

Weil Menschen ihr Geld in Aktien anlegen anstatt Waren zu kaufen und zu konsumieren, wird die Wirtschaft angekurbelt? Indem die Regierung auf Gelder verzichtet, die nach der Argumentation der „Forscher“ ohnehin nur in Aktien angelegt würden oder werden sollten, und demzufolge ihre Ausgaben reduziert, wird die Konjunktur angeheizt? Kann denn der eine mit demselben Geld mehr kaufen als der andere?

Wirtschaft sei ganz einfach zu verstehen, sagte mir kürzlich ein Gesprächspartner per Internet. Man müsse nur eins und eins addieren können. Und Recht hat er. Hätten wir (im allgemeinen) zu wenig Geld, so hätten sich die Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland in den letzten zehn Jahren (von 1991 bis 2001) nicht von 2.020 Milliarden Euro auf 3.653 Milliarden erhöhen können. Geld ist offenbar genügend da, aber eben falsch verteilt. Der Staat hat zu wenig, um auch nur die notwendigsten Ausgaben für Bildung, Kultur und Sicherheit zu finanzieren, und die Ärmsten haben zu wenig, um in Würde zu leben. Die Mehrheit der Bevölkerung hat mehr als notwendig, legt es „auf die hohe Kante“, nicht ahnend, dass es dort um so unsicherer liegt, je mehr es wird und je mehr der Schuldenberg auf der anderen Seite, beim Staat und in den privaten Haushalten, wächst. Denn was wir in den Tresoren und auf den Konten haben, sind keine wirklichen Werte, sondern Versprechen auf Werte, Schuldscheine also, deren Sicherheit ihrer Masse umgekehrt proportional ist.

Wer die Wirtschaft am Laufen halten will, braucht nur eines zu tun: Dafür sorgen, dass gearbeitet und das Erarbeitete konsumiert werden kann. Wenn weniger Arbeit gebraucht als angeboten wird, dann müssen alle weniger arbeiten – und zwar für Löhne und Gehälter, die es ermöglichen, das Produzierte zu kaufen. In der Vergangenheit war das eines der von Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich begleiteten Erfolgsrezepte bundesdeutscher Wirtschaftspolitik. Wer die Lösung des Problems von Produktion und Absatz durch Verschuldung in die Zukunft zu verschieben versucht, handelt wie ein törichtes Kind oder ein so raffgieriger Irrer, der seine bereits prallvollen Taschen dermaßen überfüllt, dass sie platzen. Auf diesem Wege sollte, wer noch bei klarem Verstande ist, weder Mr. Bush folgen noch eine nachhaltige Ausstrahlung von ihm auf die Weltwirtschaft erhoffen. Eine nachhaltige Wirtschaftspolitik muss sich vor allem auf Stabilität der Währung richten. Denn die Währung ist das Maß aller Proportionen, aller Renten und Versicherungen und somit für die Menschen die Grundlage ökonomischer Sicherheit überhaupt.

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