Donnerstag, 18. September 2003

Sozialismus in zwei Spielarten

Bemerkung zu einem Leserbrief von Gerhard Jährig (ND, 30./31. August 03: "Den Sozialismus haben wir noch gar nicht erlebt"), erschienen in ND, 18. September 03, unter der Überschrift „Keine Lehren, sondern Analysen“

Karl Marx‘ und Friedrich Engels‘ Erwartungen von einer aus ihrer Sicht zukünftigen, wie sie sagten "sozialistischen" Gesellschaft haben sich in Bezug auf deren ökonomische Grundbeziehungen bereits erfüllt – auf zwei verschiedenen Wegen, in zwei verschiedenen Spielarten, aber in ständiger gegenseitiger Beeinflussung und mit furchtbaren Tragödien auf beiden Seiten.

Was soll die Lamentiererei „Wären die Lehren von Marx, Engels und Lenin in der Praxis berücksichtigt worden...“? Marx und Engels erteilten niemandem Lehren, sondern analysierten die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit, aus denen sie Schlussfolgerungen zogen und Erwartungen für die Zukunft formulierten. Sie entwarfen kein Modell einer sozialistischen Gesellschaft, sondern erwarteten die internationale Vereinigung des Proletariats und auf dieser Basis eine proletarische Revolution, in deren Verlauf mittels einer Diktatur des Proletariats die Produktionsmittel vergesellschaftet würden. Auf dieser Grundlage, dachten sie, wäre der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung der Produkte, der die damalige Produktionsweise kennzeichnete, aufgehoben, regulierte die Gesellschaft die Produktion nach einem gemeinsamen Plan entsprechend ihren Bedürfnissen, würden die Produkte nicht mehr als Waren für einen anonymen Markt in der Einheit von Wert und Gebrauchswert erzeugt und wäre das Geld nicht mehr die allgemeine, gegen alles austauschbare Ware, also ebenfalls Träger von Wert und Gebrauchswert, sondern nichts weiter als eine Quittung der Gesellschaft für geleistete Arbeit.

Wie erfüllten sich diese Erwartungen?
Die internationale Arbeiterbewegung, statt sich zu vereinigen, spaltete sich in zwei große Lager. Die Sozialdemokratie unter der theoretischen Führung von Kautsky, Bernstein und anderen erstrebte angesichts der sich abzeichnenden Veränderungen in den ökonomischen Verhältnissen eine evolutionäre Entwicklung zu sozialem Wohlstand durch Miteigentum. Die kommunistische Bewegung unter Lenins Banner dagegen bewertete den Wandlungsprozess in der ökonomischen Basis der Gesellschaft anders und beschritt den revolutionären Weg einer proletarischen Diktatur mit zentraler Planwirtschaft. Beide Strömungen verfolgten das Ziel, für die Menschen das Beste zu tun, und schlossen den jeweils anderen Weg als Verrat und Verbrechen an der Menschheit aus, bekämpften sich gegenseitig so vehement, dass sie sich schließlich und endlich mit dem weltweiten Zusammenbruch des Staatssozialismus völlig ermattet gegenseitig in die Arme sanken – der leninsche Bolschewismus zu Tode erschöpft, die Sozialdemokratie so verausgabt, dass sie heute, 14 Jahre nach ihrem Pyrrhussieg ihre eigenen Errungenschaften preiszugeben beginnt.

Die Produktion der Gesellschaft wird heute zwar nicht nach einem „einheitlichen, gemeinsamen“ Plan organisiert, aber von spontaner Marktregulierung wie zu Zeiten von Marx und Engels kann überhaupt keine Rede mehr sein. In weiten Bereichen wird nicht nur die Produktion reguliert, sondern auch bereits der Markt ganz bewusst organisiert.

Das Eigentum, auch das private, besteht heute zum allergrößten Teil nicht mehr aus Sachwerten, sondern aus Wertpapieren aller Art. Es ist aus einer realen, greifbaren Sache zu etwas Fiktivem, einem Versprechen, zu einem Anrecht auf irgendetwas „verkommen“. Aus Eigentum wurde weitgehend Miteigentum bzw. Anspruch auf Eigentum (als durch Arbeit angeeignete Natur).

Das gilt auch und vor allem für das Geld. Es ist nicht mehr wie zu Marx‘ Zeiten goldene, klingende Münze, in der tatsächlich gesellschaftliche Arbeit vergegenständlicht ist - ja es begründet als Papiergeld seit der Aufhebung seines Goldstandards im Jahre 1971 nicht einmal mehr einen Anspruch darauf -, sondern es ist quasi hinter dem Rücken der Gesellschaft, offensichtlich ganz unbemerkt zu einem Bezugsschein, zu einer Arbeitsquittung geworden; ohne jeglichen eigenen Wert. Die Schizophrenie unserer heutigen Gesellschaft und so vieler ihrer einzelnen Mitglieder zeigt sich darin, dass so viele Reiche und Superreiche, die so viel von diesem wertlosen Zeug besitzen, dass sie und ihre Kinder es in ihrem ganzen Leben nicht gegen reale Sachwerte eintauschen und verbrauchen können, ihm immer noch nachjagen wie der Teufel der Seele und dabei noch ihr Seelenheil verspielen.

Und wenn das Geld keine Ware mehr in der Einheit von Wert und Gebrauchswert ist, so auch nicht die Produkte, deren Austausch durch dieses Medium vermittelt wird. Die Warenproduktion, wie Marx sie ganz allgemein und in ihrer kapitalistischen Erscheinungsform analysierte, wurde nicht nur auf dem Wege der revolutionären proletarischen Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sondern – parallel dazu – auch auf dem evolutionären Wege einer Vergesellschaftung im Rahmen des alten Systems, auf der Grundlage fortschreitender Arbeitsteilung sowie zunehmender technischer und ökonomischer Kooperation überwunden.

Karl Marx‘ und Friedrich Engels‘ Erwartungen von einer aus ihrer Sicht zukünftigen, wie sie sagten sozialistischen Gesellschaft haben sich also in Bezug auf deren ökonomische Grundbeziehungen in Ost und West bereits erfüllt – auf zwei verschiedenen Wegen, in zwei verschiedenen Spielarten, aber in ständiger gegenseitiger Beeinflussung und mit furchtbaren Tragödien auf beiden Seiten. Beide Theoretiker hüteten sich bewusst vor konkreten Aussagen über die künftige (sozialistische) Gesellschaft – deshalb sind ihre Auslassungen darüber auch so spärlich. Nicht deren konkrete Erscheinungsformen und Wege zu ihrer Gestaltung waren ihnen wichtig und vorhersehbar, sondern ihre wesentlichen ökonomischen Beziehungen. Soweit sie dennoch konkrete Vorstellungen hatten (beispielsweise von der Rolle des Proletariats und seiner Revolution), waren ihre Irrtümer unvermeidbar, weil die wissenschaftlich-technische und ökonomische Entwicklung nicht vorhersehbar.

Lothar Bisky tut also gut daran, wenn er sich in der Diskussion über ein neues Parteiprogramm der PDS darauf beschränkt, Sozialismus „als Wertesystem, als Ziel, aber auch als Weg zu einer solidarischeren, sozial gerechteren Gesellschaft“ zu verstehen (ND, 28.8.03). Diese Werte sind heute mehr denn je in Gefahr, und ihr Untergang – die Spirale von staatlichem und Individualterror ist ein Hinweis darauf - könnte einen Kollaps der Menschheit heraufbeschwören.

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