Donnerstag, 3. Juli 2003

Salto rückwärts

Leserbrief von Heerke Hummel, Werder /Havel, zu „Sozialismus auf Pump?“ ND, 1.7.03, S. 5
(erschienen in ND, 3. Juli 03, S. 11)

Liebich hat mit seiner Frage auf dem PDS-Parteitag (wahrscheinlich unbewusst) ein ganz wichtiges und interessantes politökonomisches Problem angesprochen. Denn nicht nur die Zukunft wäre mit Schuldenmachen auf Pump finanziert. Die ganzen vergangenen 50 Jahre sozialen Wohlstands in der Bundesrepublik waren tatsächlich „gepumpt“ – auf dem Wege von Staatsverschuldung und schleichender Geldentwertung.


Dabei hat die Gesellschaft als ganze das erzeugte Mehrprodukt materiell konsumiert und ganz nebenbei die Arbeitszeit verkürzt. Und die Wirtschaft, das Wirtschaftssystem, hat quasi ohne Krisen sachlich-materiell funktioniert (finanziell allerdings ist ein gewaltiger Schuldenberg des Staates sowie privater Haushalte aufgelaufen). Überhaupt arbeitet fast die gesamte Wirtschaft auf Pump. Die wenigsten Unternehmer setzen in der Produktion ihr privates Vermögen ein. Allgemein üblich ist die Unternehmensfinanzierung mittels Bankkredite oder sonstigen fremden Geldes.

Welches ist der Hintergrund dieser ganzen ökonomischen Entwicklung? Seit der Aufhebung des Goldstandards des Dollars sowie der anderen international wichtigen Währungen zu Beginn der 1970er Jahre ist das Geld gar kein Geld mehr im marxschen Sinne, also Einheit von Wert und Gebrauchswert (des Goldes), sondern hat sich hinter dem Rücken der Gesellschaft in ein Arbeitszertifikat, in einen Schuldschein verwandelt: Wer arbeitet oder eine Sache mit Wert und Gebrauchswert für dieses Geld verkauft, bekommt im Gegenzug nicht ebenfalls eine Sache mit Wert und Gebrauchswert (also eine Ware im marxschen Sinne), sondern einen Anspruchschein auf soundso viel gesellschaftliche Arbeit, ausgedrückt in dieser Währungseinheit.

Genau so beschrieb Karl Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms die ökonomische Grundbeziehung einer sozialistischen, noch mit den Muttermalen des Kapitalismus behafteten Gesellschaft, in der das Arbeits- und Verteilungsprinzip gelten würde: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung.

Die Ironie der Geschichte bestand darin, dass im ökonomischen Wettbewerb der beiden Weltsysteme, diejenige Seite unterlag, die glaubte, das Erbe von Marx und Engels angetreten zu haben, und nicht genug von der bewussten Durchsetzung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten palavern konnte, während diejenige siegte, die Marx´ Gedankengut fürchtete wie der Teufel das Weihwasser, aber unter dem Druck der ökonomischen und politischen Verhältnisse in der Welt und ganz unbewusst im wesentlichen das ökonomisch Notwendige, von Marx Erwartete, tat. Doch heute, da der äußere Druck fort ist, versucht dieses System mit der Bundesregierung an der Spitze im Zirkus der Weltgeschichte einen Salto rückwärts, indem das soziale Element, welches die Funktionsfähigkeit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses sicherstellte, wieder abgebaut und die reale Kapitalverwertung zum (nicht mehr) goldenen Kalb erhoben wird. Der Standpunkt der linken Kritiker auf dem PDS-Parteitag verdient deshalb nicht nur die pragmatisch-wahltaktische Begründung von Sahra Wagenknecht, sondern ebenso eine ganz solide reproduktionstheoretische.

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