Mittwoch, 5. März 2003

Stalins Erben gestern und heute

Bemerkungen zu einer Konferenz zum 50. Todestag J. W. Stalins

Auf der Konferenz im Roten Salon der Berliner Volksbühne am 5. März 2003 zum 50. Todestag Stalins stand plötzlich die Frage im Raum: War diese Diktatur notwendig, unumgänglich? Und der deutsche Historiker Prof. Dr. Wolfgang Ruge, der als emigrierter Kommunist selber viele Jahre in einem sowjetischen Arbeitslager gelitten hatte, sagte zu meiner großen Verwunderung: Ja. Denn wäre es Stalin nicht gewesen, hätte ein anderer seine Rolle übernommen.



Offenbar waren darüber alle anderen genauso sprachlos wie ich, denn die Sache wurde nicht weiter erörtert. Doch nach einigem Überlegen komme ich zu dem gleichen Schluss. Zwar vollzieht sich Geschichte im Zusammenspiel unendlich vieler Faktoren und konkreter Umstände, doch gibt es dabei stets solche, die mehr, und solche, die weniger Gewicht haben. Und es gibt konkrete und allgemeine Zusammenhänge.

Eine wesentliche allgemeine Voraussetzung jeder Diktatur ist die Bereitschaft der Menschen, Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen anzuwenden und zu akzeptieren. Diese Bereitschaft war schon immer und überall und wird wohl noch sehr lange vorhanden sein. Die Frage ist daher nur, wieviel Gewalt nötig ist, um bestimmte Ziele zu erreichen, und wie groß Gewaltbereitschaft und –akzeptanz sind. Schon in jungen Jahren war mir nicht recht wohl, wenn im Geschichtsunterricht preußische Reformbereitschaft kritisiert und manchmal bespöttelt wurde, weil sie Revolutionen verhinderte. Heute betrachte ich sie ganz bewußt als eine Tugend, die Gewalt zwar nicht beseitigte, aber wenigstens eindämmte, indem gegensätzliche Interessen ausgeglichen und große Konflikte (wenigstens teilweise) vermieden wurden. Es geht also um die Frage der Einsicht (und zwar aller irgendwie von einem bestimmten Konflikt tangierten Parteien) in die Notwendigkeit bestimmter Interessenlagen und Entwicklungen. Die Gewaltbereitschaft der Bolschewiki korrespondierte mit der selbst erfahrenen Gewaltbereitschaft des russischen Adels, der russischen Bourgeoisie und vor allem des europäischen und amerikanischen Kapitals. Die besonderen Formen und Ausmaße der bolschewistisch-stalinistischen Diktatur waren nicht nur einer Person, sondern den ganz spezifischen damaligen nationalen und internationalen Umständen und Interessenlagen geschuldet – ebenso wie die Hitlerdiktatur in Deutschland und der heutige internationale Terrorkampf zwischen den USA und der von ihnen unterdrückten Welt. Immer gleich sind nur die ungeheuren, in ihrer Zahl mit dem Aktionsradius und dem Aktionspotential stets steigenden menschlichen Opfer und ihr Leid. Wer das vermeiden will, muss Interessen ausgleichendes Reformbewusstsein erzeugen. Dieser aktuelle Bezug eines schrecklichen Geschichtsphänomens des vorigen Jahrhunderts hätte – zumindest am ersten Konferenztag – deutlicher werden sollen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen