Donnerstag, 30. Januar 2003

War Hitler vermeidbar?

Leserbrief von Heerke Hummel, veröffentlicht in ND, 30. Januar 2003, bezugnehmend auf einen Bericht im ND v.25./26. Januar 2003 über das erste gemeinsame SPD-PDS-Geschichtsforum, das sich dieser Frage widmete

Nach Ansicht der Veranstalter soll dies „die wichtigste Frage der deutschen Geschichte“ sein.

Meines Erachtens ist diese Frage jedoch völlig belanglos, und eben deshalb konnte sie auch, wie Berichterstatter Tom Strohschneider gleich am Anfang feststellt, nicht beantwortet werden. Geschichte ist geschehen und nicht mehr zu ändern und wird sich nicht wiederholen. Nur im Moment des Geschehens sind die Wege der Entwicklung offen, doch ihr Beginn liegt mit den Ursachen für Geschehnisse aller Art in der Vergangenheit. Deshalb ist die wirklich wichtige Frage für diesen besonders bedeutenden Zeitabschnitt deutscher Geschichte die nach den Ursachen des betrachteten Phänomens. Sie liegen letztlich in der Gesamtheit vorheriger Ereignisse - mit starken und weniger starken bzw. bedeutungsvollen Wurzeln.



Aus heutiger Sicht ist es leicht, zu be- und verurteilen. Doch wer sich einmal in zurück liegende Perioden hinein versetzt, beispielsweise durch Detailstudien der früheren Umstände anhand von Zeitdokumenten wie Tagespresse usw., wird feststellen, dass alle handelnden Personen, die unbedeutenden ebenso wie die bedeutenden, Gründe für ihr Handeln hatten, die weitgehend aus den erlebten Umständen (natürlich auch aus ihrem ganzen Bewusstsein samt Bildung, Wissen usw.) resultierten, ohne allerdings die Folgen ihres Handelns in ihrer Komplexität und Fernwirkung umfassend einschätzen zu können, wenigstens nicht mit Gewissheit.

Ich durchblätterte dieser Tage zufällig und aus ganz anderem Anlass die Ausgaben der KPD-Zeitung „Die Rote Fahne“ von ihrem ersten Erscheinen 1918 bis zu ihrem Verbot 1933 und spürte förmlich nachempfindend die Zerrissenheit der damaligen Gesellschaft als Ganzes, aber auch ihrer Teile bis hin zum Einzelnen. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich – mich in ihre Situation hineinversetzend – die Kommunisten verstehen in ihrem Hass auf die SPD-„Verräter“ an der deutschen Arbeiterklasse, deren „historische Mission“ man erfüllen zu müssen glaubte. Soll man dafür Marx, Engels und Lenin die „Schuld“ geben, die ja nichts anderes taten als logisch zu denken und Konsequenzen zu ziehen, aber natürlich nicht wissen konnten, was sich in der Welt alles an Neuem entwickeln würde? Und ich kann auch die Sozialdemokraten verstehen, welche die gesellschaftlichen Veränderungen (Herausbildung des Monopolkapitalismus, Lage und Rolle der Arbeiterklasse, insbesondere unter Berücksichtigung der wissenschaftlich-technischen Intelligenz und des Managertums in der Wirtschaft) anders bewerteten als die Kommunisten um Lenin und seine Nachfolger und durch deren Proletenkult sowie Gewaltbereitschaft abgestoßen wurden. Aber auch das Empfinden breiter Mittelschichten ist verständlich, die sich durch das Friedensdiktat von Versailles national gedemütigt und wirtschaftlich ausgeplündert fühlten bis in die dreißiger Jahre hinein. Ja selbst das deutsche Großkapital war nicht ausschließlich und von Anfang an kriegslüstern. Schon Lenin hatte 1918 den Versailler Vertrag kritisiert, weil er in ihm die Wurzeln für eine neue große kriegerische Auseinandersetzung der imperialistischen Mächte sah. Doch das neue Wettrüsten in Europa begann nicht in Deutschland, sondern Frankreich und England unternahmen schon in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre erneute Rüstungsanstrengungen, schmiedeten gegeneinander strategische militärische Bündnisse, um sich jeweils die Vorherrschaft in Europa zu sichern – nachzulesen in der „Roten Fahne“ vom 19. Juli 1924 in einer Korrespondenz eines gewissen M. Pawlowitsch aus Moskau. Nachzulesen dort (Ausgabe vom 5. Juni 1932) auch ein Protokoll über das Auftreten von Papens vor dem konservativen Deutschen Herrenklub im Februar 1931, aus welchem hervorgeht, dass es schon damals starke Bemühungen auf beiden Seiten gab, zu einem deutsch-französischen Bündnis (unter Einbeziehung Polens) zu kommen. Allein diese wenigen Aspekte machen deutlich, dass nicht nur die deutsche, sondern die europäische und Weltgeschichte auch ganz anders hätte verlaufen können, wenn... Aber sie hat nun einmal nur diesen einen tragischen Weg genommen, den wohl kaum jemand in dieser ganzen ungeheuren, grässlichen Dimension vorausgesehen und gewollt hat, jedenfalls was die große Mehrheit der Menschen betrifft. Sie alle wurden Opfer ihres eigenen, zu kurzsichtigen Handelns, weil sie alle, jedenfalls die große Mehrheit, nicht fähig waren, außer dem eigenen Interesse auch das der anderen Seite zu erkennen und anzuerkennen, den eigenen, eingeengten Standpunkt und Blickwinkel zu verlassen, das Problem der divergierenden Interessen von einer höheren, gemeinsamen Warte aus zu betrachten und von daher eine wirklich die Interessen ausgleichende, friedliche Lösung der Probleme zu finden. Dies scheint mir die wichtigste Lehre der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein, die jedenfalls Europa begriffen zu haben scheint. Hoffen wir, dass die Menschheit diese Lektion gelernt hat, vor allem diejenigen, die glauben, ihr Interesse sei auch das der übrigen Welt oder zu diesem zu machen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen