Montag, 6. Mai 2002

Wann wird Marx - nun vom Kapital - wiederentdeckt?

Ein Widerspruch zu dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse, der in einem "ND"-Interview - 6. Mai 2002 - meinte, Karl Marx sei, genau entgegengesetzt zu seiner eigenen Zielstellung, zum Retter des Kapitalismus und Totengräber des Sozialismus geworden. - Im Gegenteil, man wird sich noch auf den letzten Klassiker der ökonomischen Theorie besinnen!


Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse gab dem "Neuen Deutschland" Ausgabe vom 6. Mai 2002, S.11) ein Interview, in welchem er den hegelschen Gedanken aufgriff, mit der bürgerlichen Gesellschaft sei das Ende der Geschichte erreicht. Mit der Beseitigung der Polarität der Welt durch den Niedergang des Weltsozialismus sei tatsächlich eine Stagnation der Geschichte eingetreten. Marx habe mit seinem Werk "Das Kapital" der Bourgeoisie das theoretische Rüstzeug gegeben, den eigenen Widerpart in Gestalt der organisierten Arbeiterschaft zu erkennen, zu neutralisieren und schließlich als sozialistisches Weltsystem zu überwinden. So sei er, Marx, genau entgegengesetzt zu seiner eigenen Zielstellung, zum Retter des Kapitalismus und Totengräber des Sozialismus geworden.

So originell dieser Gedankengang auch ist - Folgendes ist zu beachten: Marx selber fußte mit seinem Werk auf den Erkenntnissen der bürgerlichen Denker, die in ihrem positiven, aufsteigenden Zweig der Wahrheit ja dicht auf den Fersen waren. Die hegelsche Geschichtsphilosophie brauchte "nur" auf den Kopf gestellt zu werden, und die Arbeitswerttheorie des Engländers David Ricardo brauchte "nur" durch die Entdeckung des Doppelcharakters der warenproduzierenden Arbeit (Schaffung von Wert und Gebrauchswert) und der Mehr-Wert produzierenden Ware Arbeitskraft als Quelle des Mehrwerts ergänzt zu werden, wie Marx in seiner Bescheidenheit selber schrieb. Das heißt: Hätte es das marxsche Werk nicht gegeben, wäre die Weltgeschichte nach ihm mit ziemlicher Sicherheit zwar anders verlaufen. Aber darunter gelitten hätte das Kapital oder gar untergegangen wäre es ohne Marx bestimmt auch nicht. Das Proletariat hätte sich auch ohne Marx dann und wann mehr oder weniger erfolgreich erhoben oder für Verbesserungen gestreikt, um sich aber auch wieder zu beruhigen, genauso wie es das in Westeuropa seit eh und je getan hat. Das Kapital brauchte Marx' Analyse nicht, um zu funktionieren und sich zu entwickeln. Zweifellos hat seine Theorie auch die bürgerliche Politik beeinflusst. Aber die eigentlichen theoretischen und praktischen Herrschaftsinstrumente wurden immer von der Bourgeoisie selbst entwickelt, teilweise natürlich unter starker Beeinflussung durch Marx. Ohne ihn wäre aber auch vielleicht die ganze Apologetik, zum Beispiel in der Wirtschaftstheorie, nicht notwendig gewesen oder weniger stark ausgeprägt worden, wäre für bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler vielleicht der Weg frei gewesen zu eigenen der objektiven Wahrheit besser entsprechenden Erkenntnissen, welche es möglich machten, anstelle von Flickschusterei an Oberflächenerscheinungen und Krisensymptomen wirkliche Ursachenbekämpfung zu betreiben. Dies war bisher durch eine klassenbedingte Fehlinterpretation der Wirklichkeit nicht möglich, wobei die Ablehnung der marxschen Arbeitswerttheorie eine zentrale Rolle spielt.
Der Spielraum für Scheinmärkte ist weitgehend erschöpft
Die interessante Frage der Gegenwart ist dabei, ob und wann das Kapital nun, nach der weitgehenden Bannung der Gefahr einer sozialistischen Weltrevolution, die sein eigenes Ende bedeuten sollte, ja nach dem Quasi-Tod der sozialistischen Theorie überhaupt bereit sein wird, die ökonomische Wirklichkeit realistischer theoretisch zu interpretieren. Marx' Analyse des kapitalistischen Reproduktionsprozesses könnte dafür den Ausgangspunkt bilden.

Zu erwarten ist, dass das internationale Finanzkapital aufgrund des Fehlens seines bisherigen äußeren Gegenpols in Gestalt des sozialistischen Weltsystems unter zunehmenden inneren Druck gerät. Der zentrale Widerspruch des Kapitalismus, der sich darstellt als Gegensatz von Kapital und Arbeit, von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, von schrankenlosem Produktionsbedürfnis und eingeschränktem Konsumtionsvermögen, kurz von Angebot und Nachfrage, wurde unter dem Druck des sozialistischen Weltsystems gelöst durch die Vernichtung von Wert auf dem Wege der von riesiger Staatsverschuldung begleiteten Rüstungsfinanzierung, inflationärer Preisentwicklung sowie (besonders in jüngster Zeit) spekulativer Kursentwicklung bei Wertpapieren.

Aber das kapitalistische Prinzip der Plusmacherei funktioniert nicht auf Dauer, der daraus resultierende Konflikt zwischen Produktion und Markt kann nicht auf Dauer fortgemogelt oder wie ein immer größer werdender Schneeball als Inflations- und Schuldenlawine von der Gesellschaft vor sich her geschoben werden. Was produziert wurde, muss konsumiert werden, sonst kommt die (Re-)Produktion zum erliegen. Doch das Mehrprodukt der Gesellschaft soll unter kapitalistischen Verhältnissen nicht wie im Feudalismus von der herrschenden Klasse konsumiert, verbraucht, sondern als Mehrwert zur ständigen Erweiterung der Produktion und Erzeugung von noch mehr Mehrwert akkumuliert werden. Objektives Ziel der Produktion ist nicht letztendlich die Konsumtion, wie in den vorangegangenen, nichtkapitalistischen Produktionsweisen, sondern ihre eigene schrankenlose Ausdehnung, also Produktion um der Produktion willen. Weil aber kapitalistische Produktion immer Warenproduktion ist, die sich in dem endlosen Kreislauf von Ware-Geld-Ware-Geld vollzieht, durch den Warenaustausch über das Geld vermittelt wird, also Konsumtion voraussetzt, gerät sie ständig in Konflikt mit der begrenzten zahlungsfähigen Nachfrage der Produzenten als Konsumenten. Die Produzenten sollen für ihren Lohn das Produkt ihrer Arbeit kaufen. Aber ihr Lohn entspricht nicht dem ganzen Wert ihres Produktes, sonst hätte der Unternehmer keinen Gewinn.

Marx zeigt in seinen Schemata der einfachen und erweiterten Reproduktion die Zirkulation des Wertes im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess auf und macht dabei deutlich, dass und unter welchen Bedingungen Mehrwert zur Erweiterung der Produktion eingesetzt, als zusätzliches Kapital akkumuliert werden kann: Nämlich bei Einsatz von immer mehr Maschinen und immer mehr Arbeitskräften. Dafür muss der Markt die Bedingungen und den entsprechenden Anreiz bieten. Bietet er diesen nicht, dann kommt es zum Konjunktureinbruch, zur Überproduktion und zur Krise mit den Begleiterscheinungen Produktionsdrosselung, Firmenzusammenbrüche und Arbeitslosigkeit.

Seit einigen Jahrzehnten schon ist aber die Konjunkturphase nicht mehr - wie früher - verbunden mit einer Wiedereingliederung der Arbeitslosen in den Produktionsprozess, sondern die Investitionen dienen in erster Linie der Produktionsrationalisierung. Der technische Fortschritt vollzieht sich heute so schnell und so wirksam, dass die Investitionen der Konjunkturphase zwar eine enorme Produktionserweiterung mit sich bringen, jedoch bei gleichzeitig sinkender Beschäftigtenzahl. Mit der Produktionsrationalisierung sinkt der Wert der Erzeugnisse - der Konsumgüter ebenso wie der Investitionsgüter -, so dass der für die gesellschaftliche Reproduktion erforderliche Kapitalbedarf sinkt oder wenigstens langsamer wächst als die Kapitalmasse und ein zunehmender Kapitalüberschuss entsteht. Wo ist er und wo bleibt er?
Er wird bzw. wurde bisher weitestgehend vernichtet, verbraucht:
  1. Im Zuge einer inflationären Preisentwicklung. Obwohl die Arbeitsproduktivität stieg und der Wert der Waren, die in ihr vergegenständlichte Menge gesellschaftlich notwendiger Arbeit, demzufolge sank, kletterten die Preise (der Geldausdruck der Warenwerte). Würde man die heutigen Vermögen von Wirtschaft und Privatpersonen nach dem Preismaßstab von vor 50 Jahren bewerten, so käme heraus, dass sie nur einen Bruchteil dessen Wert sind, was in den Konten und Büchern ausgewiesen wird. Das heißt, ein Großteil des vermeintlichen Vermögenszuwachses hat gar nicht stattgefunden, sondern ist von der Gesellschaft verbraucht worden. Man kann den Vorgang mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland - und wahrscheinlich auch der anderen Industrieländer - auch so beschreiben: Vor allem unter dem Druck des Realsozialismus gelang es den westdeutschen Werktätigen über fünf Jahrzehnte hinweg, von Jahr zu Jahr Lohnerhöhungen durchzusetzen und das Lebensniveau zu verbessern. Auf diese Weise konnten sie einen erheblichen Teil des Mehrwerts/Mehrprodukts der jeweils vorangegangenen Produktionsperiode kaufen und konsumieren, der ohne diese Lohnerhöhungen gar nicht absetzbar, konsumierbar gewesen wäre. Damit aber das Kapital trotz der gestiegenen Löhne in der neuen Produktionsperiode noch einen bzw. den gleichen Gewinn erzielen konnte, erhöhte es entsprechend die Preise. Dieses (nächste) Mehrprodukt wurde durch neue Lohnerhöhungen wiederum (wenigstens teilweise) vom Volk verzehrt usw., begleitet von fortwährender Entwertung des Geldes und damit der Altvermögen. So gesehen war ein wesentliches, von Marx für den Sozialismus formuliertes ökonomisches Merkmal, nämlich gesellschaftliche Produktion bei gesellschaftlicher Aneignung des Produkts, bereits seit langem in erheblichem Maße gegeben, ohne dass sich jemand dessen bewusst gewesen zu sein scheint. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen schrankenloser Ausdehnung der Produktion und begrenzter zahlungsfähiger Nachfrage war - wenigstens in dieser Hinsicht und zumindest teilweise - gelöst. Der Kapitalismus funktionierte, entgegen den Prophezeihungen der Sozialisten, die zwar unter Hinweis auf Marx argumentieren konnten, die Werktätigen hätten im Lohnkampf den Wert ihrer Ware Arbeitskraft erhöht und deshalb habe sich trotz steigenden Lebensniveaus an der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nichts geändert. Aber über einen längeren Zeitraum betrachtet ist eben real bedeutend weniger Kapital akkumuliert worden als in den Büchern und Konten infolge inflationistischer Preisentwicklung ausgewiesen wird, während gleichzeitig ein erheblicher Teil des vermeintlichen Mehrprodukts von den Produzenten selbst konsumiert wurde.
  2. Durch die ungeheure Staatsverschuldung. Durch sie sind gewaltige Wertmassen von der Gesellschaft als Ganzes verbraucht, teilweise durch die Rüstung quasi sinnlos vernichtet worden, die eigentlich gar nicht hätten bezahlt werden können und sich als Kapitalüberschuss in Gestalt unverkäuflicher Waren darstellen würden. Statt dessen sind nun Schuldscheine, Staatsanleihen auf dem Markt, welche mit ihren Zinsansprüchen den Staatshaushalt auf unabsehbare Zeit enorm belasten und die Ausgaben des Staates, d.h. die gesellschaftliche Konsumtion in der Zukunft wesentlich einschränken - von der Schuldentilgung ganz zu schweigen.
  3. Durch die Aufblähung der internationalen Finanzmärkte. Der gewaltige Kapitalüberschuss bei den Unternehmen hat dazu geführt, dass diese, anstatt zu investieren, mit ihren freien Mitteln an die Börse gehen. Dadurch sind die Kurse der Wertpapiere stark in die Höhe gegangen, so dass die Finanzmärkte große überschüssige Kapitalmengen wie ein gewaltiger Schwamm aufsogen. Das böse Erwachen muss kommen, wenn die inflationäre Kursentwicklung sich beruhigt und der Kapitalertrag aus der Börsenspekulation nicht mehr größer und sicherer ist als der aus unternehmerischer Leistung. Wenn dann das Volumen der Finanzmärkte auf seinen Realwert zurückgeht, wird sich zeigen, wie viel Kapital in dieser ganzen Prozedur vernichtet wurde.
Es ist eine Frage der Zeit, bis alle diese Schlupflöcher bzw. Scheinmärkte des überschüssigen Kapitals endgültig verstopft sind und es sich auf den Topf beschränken muss, aus dem es kommt - den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Schon heute werden von den internationalen Finanzmanagern große Anstrengungen unternommen, um den hier aufgezeigten Tendenzen zur Geldentwertung, zur Staatsverschuldung und zur Aufblähung der Finanzmärkte entgegenzuwirken, weil man weiß, dass diese Entwicklung einer Grenze zustrebt, bei deren Erreichung das allgemeine Vertrauen in die Papierwerte aller Art verloren geht und das Weltwirtschaftsgefüge zusammenbricht - eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes angesichts der heutigen intensiven technischen und wirtschaftlichen internationalen Verflechtung. Man wirkt also und muss genau denjenigen Faktoren entgegenwirken, welche das kapitalistische, profitorientierte Wirtschaftssystem bisher funktionsfähig hielten. Werden diese Faktoren tatsächlich einmal ausgeschaltet, dann bedeutet dies, dass die gesellschaftliche Produktion ohne den Anreiz des Profits auskommen und am Laufen gehalten werden muss, zumindest mit sehr viel geringeren Anreizen. Ist das möglich?
Wirtschaft ohne Profit?

Die Antwort muss lauten: Grundsätzlich ja! Denn sie ist ja eigentlich schon fast im ganzen vorigen Jahrhundert ohne diesen Anreiz ausgekommen:
  1. In den Ländern des Sozialismus ganz bewusst und
  2. in den Ländern des Kapitals unbewusst, indem sich nämlich der vermeintliche, scheinbare (nominelle) Vermögenszuwachs durch unvorstellbare Kriegsverluste, Pleiten, Staatsverschuldungen, und Inflationsverluste sowie Aufblähung der Finanzmärkte auf ein sehr viel geringeres Realmaß, ausgedrückt in vergegenständlichter gesellschaftlich notwendiger Arbeit, reduziert. Hundert Jahre Geschichte im Namen des Profits haben auch nicht annähernd den erwarteten und vermeintlichen wirtschaftlichen Erfolg gehabt. Sogar die internationalen Machtstrukturen haben sich in dieser Zeit nicht so verändert, wie es die großen Mächte vielleicht einmal in ihren Vorherrschaftsplänen für möglich hielten und anstrebten. Vollzogen hat sich dagegen vor allem ein bedeutender internationaler Konzentrationsprozess der Macht - ein Pendant zu der Konzentration des Kapitals als Folge nicht von militärischen Siegen und Niederlagen, die, historisch gesehen, quasi bedeutungslos waren, sondern der Internationalisierung der Produktivkräfte (des wissenschaftlich-technischen Fortschritts) und der Globalisierung der Wirtschaft.
Wie kann, wie wird also die Zukunft aussehen? Die Zukunft aus heutiger Sicht ist das 21. Jahrhundert. Sein Beginn ist unter anderem vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sich ein historisch außerordentlich bedeutsamer internationaler Zentralisationsprozess zur Steuerung der weltwirtschaftlichen Entwicklung herausbildet und immer stärker vollziehen wird. Merkmale dafür sind die Bildung und die Erweiterung der Europäischen Union ebenso wie die regelmäßigen G7/G8-Treffen. Je fester solche und ähnliche Verbindungen und je umfangreicher ihre Kompetenzen werden, um so tiefer werden ihre Beschlüsse in den internationalen Reproduktionsprozess eingreifen können. Und je tiefer sie eingreifen, um so mehr wird sich das Wesen dieses Prozesses, das Wesen der globalen Wirtschaftsbeziehungen verändern und Züge einer planmäßig gestalteten Entwicklung annehmen, die bis in die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse reicht. So beschlossen die Staats- und Regierungschefs der G8-Gruppe, in die Russland nun als ständiges, vollberechtigtes Mitglied aufgenommen wurde, bei ihrem Treffen Ende Juni 2002 einen "Aktionsplan für Afrika" mit Investitionsabsichten auf dem Kontinent im Kampf gegen Krankheit, mangelnde Bildung und Armut, "falls die entsprechenden Länder erfolgreich den Weg zu nach westlichen Maßstäben demokratischen Gesellschaften eingeschlagen haben" ("Neues Deutschland" v. 28.6.2002). Man mag solche Beschlüsse und Vorhaben bewerten wie man will - sie stellen tiefe Eingriffe in gesellschaftliche Prozesse und Verhältnisse dar, um optimale Reproduktionsbedingungen für das internationale Finanzkapital (einschließlich Gewährleistung seiner Sicherheit) zu schaffen.

Da der weltweite gesellschaftliche Reproduktionsprozess bei den heutigen Maßstäben der Produktion, der Kapitaleinsätze und ihrer Verwertungsrisiken nicht mehr dem freien Spiel der ausschließlich am Profit orientierten Marktgesetze überlassen werden kann, ohne katastrophale Folgen für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (die Kapitalbesitzer, also die Herrschenden eingeschlossen) zu riskieren, bildet die internationale Gemeinschaft Macht- und Leitungsstrukturen und -instrumente heraus wie UNO, EU, G8-Treffen und andere, die sicherlich noch kommen und den Leitungsprozess immer effizienter machen werden. (Ein einziges Randproblem sei erwähnt, welches am 30.6.02 im Presseclub der ARD angesprochen wurde: Die Altersabsicherung der Senioren, welche durch die Unsicherheit jeglicher Vermögensanlagen und Versicherungen, die die Einlagen ihrer Klienten ebenfalls in irgendwelchen Fonds anlegen, ist zunehmend in Frage gestellt.)
Zunehmende Steuerung der Wirtschaft zielt auf ökonomische Sicherheit
Alle Steuerungsmaßnahmen der Gesellschaft - von welchen Gremien und in welcher Form sie auch ergriffen werden - haben zum Ziel, die Reproduktionsbedingungen (bis hin zu den gesellschaftlichen Verhältnissen - siehe oben erwähnten G8-Beschluß für Afrika!) zu harmonisieren und anzugleichen und den globalisierten gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zu stabilisieren. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Stabilisierung der Austauschbeziehungen aller Art, kurz der Werte und Wertverhältnisse. Denn von ihnen hängen Reichtum und Wohlstand der Menschen, der Völker und Nationen wesentlich ab. Mit der Einführung des Euro als gemeinsame EU-Währung wurde auf diesem Wege ein bedeutender Schritt getan.

Wer Werte irgendwelcher Art (die Rede ist hier natürlich immer von Werten im ökonomischen Sinne!) in feste Relationen setzt, fixiert damit die quantitativen Relationen zwischen den entsprechenden (nationalen) Arbeiten, weil der Wert einer Ware durch die in ihr vergegenständlichte gesellschaftlich notwendige Arbeit bestimmt wird, der Wert einer Währung also durch die Menge gesellschaftlich notwendiger Arbeit, die sie, die Währung(seinheit), repräsentiert. Mit der Euroeinführung wurde also erreicht, dass jetzt in ganz Europa der Wert, die gesellschaftliche Arbeit in ihrer vergegenständlichten Form, mit dem gleichen Maß gemessen wird. Das war ein bedeutsamer Schritt zu mehr ökonomischer Sicherheit in Europa, denn egal wo in Europa gespart, gearbeitet oder ein Geschäft abgeschlossen und Geld angelegt wird - der Wert des Lohns oder Erlöses bleibt der gleiche, wo immer er in Euroland ausgegeben wird, ist (im Gegensatz zu früher) unberührt von irgendwelchen Kursschwankungen nationaler Währungen.

Wer Preisen oder anderen Wertgrößen (etwa Wertpapierkursen oder Lohn- und Gehaltsstaffelungen) Grenzen setzt, greift damit in die Verteilung und Umverteilung geronnener gesellschaftlicher Arbeit ein. Sind solche Eingriffe wirtschaftsleitender, staatlicher bzw. internationaler Gremien zu erwarten? Ja und zwar in zunehmendem Maße, je mehr die Konzentration und Zentralisation der Produktion, der Märkte und des Kapitals zunimmt. Absprachen und Festlegungen innerhalb von Konzernen sind schon seit langem gang und gäbe. Die Gefahr großer Eruptionen und Zusammenbrüche in der Wirtschaft nimmt mit den Dimensionen der Weltwirtschaft zu, wie nicht zuletzt der im Juni 2002 ruchbar gewordene Wirtschaftsskandal des US-Telekommunikationsgiganten WorldCom mit seinen Bilanzfälschungen von 3,8 Milliarden (!) Dollar, die zu erheblichen Kurseinbrüchen am gesamten Aktienmarkt führten, erkennen lässt. Ihr muss und wird die Weltgemeinschaft durch unterschiedlichste (Ver-)Sicherungsmaßnahmen begegnen. Schon seit geraumer Zeit ist zu beobachten, dass wegen der ungenügenden Sicherheit für ihre Wertbeständigkeit Aktien und andere Wertpapiere verschiedenster Unternehmen, Branchen und Bereiche zu Fonds zusammengefasst und als solche Fondsanteile gehandelt werden. Auf diese Weise findet eine Risikoverteilung auf noch breitere Schultern der Gesellschaft, eine weitere Vergesellschaftung nicht nur der Produktion, sondern auch des Eigentums und des mit jeder Wirtschaftstätigkeit verbundenen Risikos statt. Denkbar ist, daß eines Tages auch dafür Vorschriften erlassen werden (erlassen werden müssen), wenn es sie nicht sogar schon gibt. Der objektive Zielpunkt einer solchen Entwicklung ist die Herausbildung eines allgemeinen Produktionsfonds der Gesellschaft (wahrscheinlich der Weltgemeinschaft oder großer Bereiche dieser Gemeinschaft). An ihm könnte jedermann Anteilscheine erwerben, die entsprechende Anteile am Gesamtertrag sowie entsprechende Teilhabe an der Geschäfts- bzw. Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft sicherten.
Sozialismus kommt durch die Hintertür

Es wäre etwa der Zustand, den Marx als Sozialismus ansah und in seiner Kritik des Gothaer Programms mit den Worten umriss:

"Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebenso wenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren ... Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent - nach Abzügen - exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden; die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds) und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück." (Zitiert nach: Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Dietz Verlag Berlin 1958, S. 15 f.)

Oben genannter Endpunkt wäre erreicht, wenn sämtliche Werte in einem allgemeinen gesellschaftlichen Fonds zusammengefasst und in der gleichen Maßeinheit ausgedrückt würden. Wie diese Einheit benannt würde - ob Dollar, Euro oder direkt Arbeitsstunde -, wäre völlig unerheblich, denn immer repräsentierte eine Einheit x Stunden gesellschaftlich notwendiger Arbeit, abhängig davon, wie viel Einheiten im gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt pro Stunde geleisteter lebendiger Arbeit gezahlt, angerechnet oder gutgeschrieben würden. Läge beispielsweise der durchschnittliche Lohn-/Gehaltssatz bei 20 Euro pro Stunde, dann leistete ein Maurer mit einem Stundenlohn von 10 Euro je wirkliche (Maurer-Arbeitsstunde nur eine halbe Stunde gesellschaftlicher Normalarbeit, während ein Ingenieur mit einem Gehaltssatz von 30 Euro pro wirklicher Stunde anderthalb Stunden gesellschaftlicher Normalarbeit leistete.

Mit fortlaufender Konzentration und Zentralisation des Kapitals und seiner Organisation in immer weniger, aber umfangreicheren Fonds, die sich immer mehr wechselseitig durchdringen und absichern, strebt die Entwicklung diesem Endpunkt zu, an welchem - sagen wir - jeder Dollar ganz einfach nur noch vielleicht den hundertbillionsten Teil des Weltreichtums der Menschheit oder der großen Industrienationen repräsentiert, bzw. eine xtel Stunde gesellschaftlicher (Normal-)Arbeit, und jede weitere Spezifizierung des Eigentums des Einzelnen als Aktien-, Anleihen- oder sonstiger Besitz entfällt, weil alle diese Werte letztendlich in einem einzigen Pool von Dollar-Größen zusammengefaßt sind, der ein Höchstmaß an Währungs- bzw. allgemeiner ökonomischer Stabilität gewährleisten würde.

Wie und von wem dieser Reichtum als Gesamtreproduktionsprozess strukturiert, verwaltet, geleitet und beherrscht wird, kann sich nur im Verlaufe der realen Entwicklung herausstellen, wird aber sehr wahrscheinlich von den ökonomischen, d.h. finanziellen Kräfteverhältnissen abhängen. Geld regiert die Welt - dieser Spruch wird seine ganze Wahrheit erst noch offenbaren.

Weshalb ist diese Entwicklung wahrscheinlich und logisch? Weil sie der Notwendigkeit entspricht, die Widersprüche zu überwinden, die dem Kapital innewohnen. Die Überwindung des Kapitals als gesellschaftliches Produktionsverhältnis auf dem Wege der proletarischen Revolution erwies sich als Utopie (nicht zuletzt deshalb, weil die "Lehre von der historischen Mission der Arbeiterklasse" sich als falsch erwies, die von Marx favorisierte Arbeiterklasse schon bald von der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in der Funktion als Hauptproduktivkraft abgelöst war). Das Kapital muss und wird sich durch unentwegte Konzentration und Zentralisation sowie seine Eigenzügelung mittels bewusster Gestaltung der Reproduktionsbedingungen (z.B. Vorschriften, Gesetze, Verordnungen usw., bis hin zu eventuellen Vorgaben für Mindest- oder Höchstsätze irgendwelcher Produktions- und Finanzkennziffern) selbst überwinden. Das ist ein allmählicher Prozess, der sich jedoch - wenigstens in der gegenwärtigen Zeit - enorm beschleunigt, aber sicherlich auch immer wieder partielle Rückschläge erfahren wird.

Sozialdemokratische Denker wie Kautsky, Bernstein, Hilferding u.a. haben dazu - aufbauend auf den Analysen und Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels und diese weiterentwickelnd - bereits vor einhundert Jahren bedeutende Erkenntnisse gesammelt und theoretische Vorarbeit geleistet. Für die Gegenwart und die nächste Zukunft stellt sich hingegen die Aufgabe, zwar die Augen nicht vor den noch bestehenden Gegensätzen, Widersprüchen und Konflikten in der Gesellschaft zu verschließen und die aus ihnen erwachsenden Kämpfe auf beiden Seiten mutig auszufechten, dabei aber das Wesen des Prozesses im Auge zu behalten und die weitere Konzentration und Zentralisation des Kapitals nicht künstlich zu bremsen und zu behindern.
Das Logische muss sich nicht immer realisieren
Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück - Marx als Retter des Kapitalismus und Totengräber des Sozialismus? Nein! Aus seiner Sicht war alles logisch gedacht. Und dennoch verlief die Entwicklung anders, als er vermutete. Jedoch seine Analyse der wesentlichen ökonomischen Beziehungen in der Gesellschaft hat ihren Wahrheitsgehalt nicht verloren, wie uns die Wirklichkeit unaufhörlich zeigt. Wir dürfen uns nur nicht den Blick verstellen und müssen wie er hinter den Erscheinungen das Wesen der Verhältnisse erkennen. Marx konnte zu seiner Zeit nur die zwei Extreme betrachten - Kapitalismus und Sozialismus. Ersterer erreichte gerade die Blüte seiner Entwicklung in der klassischen Phase, konnte also empirisch erfaßt werden, der Sozialismus hingegen war reine Theorie, abgeleitet aus der Analyse des Kapitalismus, wie er sich damals darstellte, unter dem einzig möglichen Blickwinkel, dessen Widersprüche zu überwinden. Marx' Erwartung einer proletarischen Revolution lag gewissermaßen auf der Hand. Die Wandelbarkeit des Kapitalismus war zu Marxens Lebzeiten kaum zu erkennen. Und als später die Veränderungen in den ökonomischen Verhältnissen offenbar waren, schlussfolgerten oben genannte Sozialdemokraten daraus die Möglichkeit, allmählich in den Sozialismus hineinzuwachsen, während Lenin seine These vom Imperialismus als dem höchsten Stadium des Kapitalismus postulierte, der sein Wesen eben nicht verändere und nach wie vor - unter Ausnutzung der im Zuge des aufziehenden ersten Weltkrieges verschärften und zugespitzten Widersprüche - durch die proletarische Revolution überwunden werden müsse. Beide Auffassungen bekämpften sich vehement und spalteten die internationale Arbeiterbewegung praktisch das ganze 20. Jahrhundert hindurch. Doch während sich die Arbeiterbewegung über die Wege zum Sozialismus stritt und zerstritt, eigene praktische Versuche unternahm, die in schlimmsten Diktaturen endeten, um schließlich völlig zu scheitern und die sozialistische Idee vielleicht für immer zu diskreditieren, zog das Kapital unaufhörlich seine Bahn, tobte in zwei Weltkriegen seine Widersprüche aus, um sich im dritten, ökonomischen Krieg ziemlich geschlossen dem realen Sozialismusversuch in der Welt entgegenzustemmen und dabei tatsächlich eigene Wege zum Sozialismus einzuschlagen, ohne dies auch nur zu ahnen. Und dies alles ohne Marx, der seit eh und je zur Unperson gestempelt war, nur auf der Suche nach Auswegen im täglichen Überlebenskampf der großen Kapitale untereinander, gegen den sozialistischen Widerpart, die Arbeiterbewegung, und gegen die Gefahr des inneren Zusammenbruchs infolge des eigenen Grundwiderspruchs zwischen Produktion und Markt.

Marx kann weder als Retter noch als Totengräber des einen wie des anderen Systems betrachtet werden. Er war ein großer Denker. Das Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung erkannte er auf Grund seiner ökonomischen Analyse sehr genau, auch wenn er sich im Weg dahin gründlich irrte. Doch wichtiger noch als die Nennung des Zieles ist, dass und wie er es verstand, das Wesen von Erscheinungen und Prozessen zu erkennen. Denn ob wir das, wohin sich die heutige Gesellschaft als Weltgemeinschaft entwickelt, Sozialismus oder Postkapitalismus oder sonst wie nennen, spielt keine Rolle. Wichtig ist es nur, zu erkennen, dass wir bereits auf dem Wege (der noch außerordentlich holprig ist und durch tiefe Gräben führt) zu einer Gesellschaft sind, welche die von Marx richtig erkannten Widersprüche des Kapitalismus überwindet und - indem sie das tut - logischerweise nur so beschaffen sein kann, wie Marx sie in ihren wesentlichen Grundzügen charakterisierte. Diese wesentlichen Grundzüge hat er nicht als utopisch-humanistisches Ideal erdacht, sondern als logische, einzig mögliche Schlussfolgerung im Zusammenhang mit einer Überwindung des Grundwiderspruchs des Kapitalismus, welcher sich äußert als Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Produktion und Markt, Wert und Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft usw.

Heutige Aufgabe ist es, hinter den gegenwärtigen Erscheinungen und Prozessen die wesentlichen Momente dieser neuen Gesellschaft bzw. den Weg dahin zu erkennen, um zwar die noch bestehenden Widersprüche und Konflikte in der Gesellschaft offen und bewusst auszutragen, gleichzeitig aber nicht die Wege nach vorn zu blockieren. So widersprüchlich es auch klingen mag: Alles, was dem Kapital neuen Entwicklungsspielraum gibt, jede Zentralisation, jede Erweiterung der Sphären und Tätigkeitsfelder im Zuge der Globalisierung ist ein Schritt hin zum Sozialismus. Der sozialistischen Bewegung kann es nicht darum gehen, das Kapital zu schwächen und ihm Fesseln anzulegen, sondern sie muss seine Entwicklung fördern, um daraus selber mit Nutzen zu ziehen und – quasi als dialektischer Widerpart der Kapitalseite in der Gesellschaft – im Kampf gegen Sozialabbau und für sozialen Fortschritt dem eigenen Ziel näher zu kommen.

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