Freitag, 16. Februar 1996

Markt- und Planwirtschaft - eine vernünftige Synthese

Leserbrief, Bezug nehmend auf „Neues Deutschland“, v. 16.2.96, S. 9
(Diskussion mit Gerhard Schürer)
War nicht spätestens 1989/90 mit dem totalen Zusammenbruch nicht nur der DDR, sondern der Planwirtschaft in ganz Osteuropa und der Sowjetunion klar, daß der Sozialismus nie eine Chance gehabt hatte, den Wettbewerb mit dem Kapitalismus zu gewinnen? Sollten überall nur die Personen nichts getaugt haben, wie Frau Cornelsen meint?




Was Frau Cornelsen vom (West-)Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Bezug auf Schürers Buch bemerkte, nämlich daß er darin "im wesentlichen handelnde Personen beschreibt", prägte offensichtlich auch die ganze Diskussion im ND-Club. Alle vorgestellten Meinungen zum Zusammenbruch der Planwirtschaft - auch Frau Cornelsen selbst - gingen nur auf die subjektiven Ursachen dieses Scheiterns ein. Aus Schürers Sicht mag das verständlich sein. Sein Buch mit dem Untertitel "Eine deutsche Biografie" wirkt auf mich wie der Versuch eines ehrlichen Mannes (der erhebliche Verantwortung für die DDR-Wirtschaft trug), sich öffentlich zu entschuldigen, den Machtmißbrauch, die Kurzsichtigkeit und Ignoranz der anderen, machtgierigen Funktionäre darzustellen, ohne die eigene Schwachheit während dieser Zeit zu leugnen.

Aber war denn nicht spätestens 1989/90 mit dem totalen Zusammenbruch nicht nur der DDR, sondern der Planwirtschaft in ganz Osteuropa und der Sowjetunion klar, daß der Sozialismus nie eine Chance gehabt hatte, den Wettbewerb mit dem Kapitalismus zu gewinnen? Sollten überall nur die Personen nichts getaugt haben, wie Frau Cornelsen meint? Oder lagen die Ursachen nicht viel tiefer - in den objektiven Verhältnissen, in der ökonomischen und industriellen Zurückgebliebenheit Osteuropas und Asiens von Anfang an?! Hundert Jahre Akkumulationsvorsprung (von der industriellen Kultur ganz zu schweigen) der kapitalistischen Zentren waren eben nicht aus eigener Kraft (das Kapital hatte dafür die ganze koloniale Welt ausgeraubt) aufzuholen und schon gar nicht bei der ungeheuren militärischen Belastung der Volkswirtschaften, die für den Osten ungleich größer und schwerer zu tragen war als für den Westen, weil die volkswirtschaftliche Leistungskraft insgesamt viel geringer war. US-Präsident Ronald Reagan machte sein Versprechen von Anfang der 80er Jahre, die Sowjetunion totzurüsten, wahr.

Natürlich gab es subjektive Fehler haufenweise - aber auf beiden Seiten! Ich kann nicht feststellen, daß die handelnden Personen im Westen mehr taugen als die im Osten! Nicht einmal, was die mangelnde Zivilcourage betrifft, die Frau Cornelsen dem Schürer - zu recht - vorwarf. Müßte nicht ganz Bonn, Paris, London, Washington und und und ... geschlossen zurücktreten angesichts der Unfähigkeit, die sozialen Probleme und der aus ihnen resultierenden militärischen Konflikte in der ganzen Welt zu lösen?! In der allgemeinen Karriere- und Gewinnsucht bekannten sich im Westen nur ganz wenige Politiker zu ihrer Verantwortung und zogen aus Fehlern Konsequenzen. Im Osten wahrscheinlich mindestens ebenso viele. Aber um sie wurde kein Medienrummel getrieben. Sie verschwanden einfach in der Versenkung, wenn nicht gar in Lagern oder Gräbern.

Seit 200 Jahren können wir beobachten, daß auch die Marktwirtschaft ohne die subjektiven staatlichen Steuerungseingriffe führender Personen industriellen Fortschritt nicht, gewissermaßen automatisch, in globalen sozialen Fortschritt verwandelt. Insofern spielt der subjektive Faktor schon eine gravierende Rolle. Aber der entscheidende Vorwurf, den sich die sozialistische Bewegung machen muß, ist nicht der, daß irgendwelche ökonomischen Steuerungssysteme und Kennziffern nicht optimal entwickelt und eingesetzt wurden, sondern der, daß sie
  1. versucht hat, das Pferd vom Schwanze aufzuzäumen bzw. das Schlußlicht zur Lokomotive des Zuges der weltweiten gesellschaftlichen Entwicklung zu machen, indem mit dem Aufbau des Sozialismus im unterentwickelten Rußland - mit Gewalt gegenüber dem ganzen Volk - begonnen wurde und gleichzeitig
  2. die von Marx und Engels vorgelegte Analyse des Kapitalismus dogmatisiert wurde.
Mit der zunehmenden Bedeutung von Wissenschaft und Technik für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß in allen seinen Bereichen seit Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die wissenschaftlich-technische Intelligenz objektiv - auf Grund ihrer für den Fortschritt entscheidenden Stellung - die führende Rolle in der Gesellschaft ein. Dieses nicht erkannt bzw. daraus nicht energisch genug die Konsequenzen gezogen und dieser zur Führung berufenen Schicht nicht die wissenschaftliche Analyse des Kapitals von Marx und Engels nahegebracht zu haben, ist das historisch gravierendste Versäumnis der sozialistischen Bewegung. Stattdessen wurde - im Osten bis 1989 - die Arbeiterklasse hofiert, bis diese Arbeiterschaft selbst sich der Macht der Dachdecker, Tischler usw. entledigte. Die Intelligenz der DDR, welche die "Arbeiterführung" bewundernswert ertrug, hatte die marxistische Theorie ironischer-, aber auch logischerweise viel breiter und fester in sich aufgesogen als das Proletariat und andere Volksschichten. Sie war schon lange zur entscheidenden, wenn auch nicht als solche anerkannten Stütze des Arbeiter- und Bauernstaates geworden.

Und wenn wir nun, vom Standpunkt des sozialen Fortschritts aus betrachtet, fast an demselben Punkt stehen wie vor rund 80 Jahren, so müßte eigentlich die sozialistische Bewegung als ganze nach ihrem grandiosen Weltexperiment, nach einem ungeheuren Waffengang und einem nie dagewesenen Wirtschaftskrieg zwischen Ost und West, dessen Rechnung ein ebenfalls nie dagewesener weltweiter Schuldenberg ist, der mit Sicherheit niemals "ehrlich abgetragen" werden kann, mit G. Schürer sagen: Gewagt und verloren.

Ein Neuanfang steht an! - Ein Neubeginn mit den Kräften der Vernunft, unter der Flagge der Vernunft und unter Führung der Vernünftigen im Maßstab Europas und der Welt. Und das Maß dieses Handelns können nur die Interessen der Menschheit sein, nicht aber der Profit! Zwar ist der Profit an sich nichts Schlimmes, wie Frau Cornelsen sagte. Aber das Kapital war und ist zu jedem Verbrechen bereit, wenn die Rate des Profits nur hoch genug ist. Und wenn Frau Cornelsen meint, die Theorie der Planwirtschaft arbeite mit einem falschen Menschenbild, so übersieht sie, daß die Planwirtschaft der DDR - bei aller Problematik - das (wenn auch bescheidene) gesellschaftliche Vermögen weit eher nach der Leistung verteilte als ihre favorisierte Profitwirtschaft, die nicht nur überhaupt kein Menschenbild hat, sondern herz- und gottlos ist und über Leichen geht, wenn es sein muß.

Überzentralisierte Planwirtschaft und skrupellose Profitwirtschaft sind bereits von der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West geprägte Begriffe für Erscheinungen und Tendenzen, die es in der Wirtschaft mit ihren negativen Folgen real gibt bzw. gegeben hat. Für einen theoretischen und praktischen Neubeginn sind sie daher unbrauchbar. Heute kommt es darauf an, unter Verzicht auf solche Synonyme die realen Vorgänge in der Welt zu analysieren und konkrete Schritte für ihre Steuerung zu erarbeiten. Dieser Prozeß, für den die ökonomische Analyse des Kapitals durch Karl Marx die entscheidende Grundlage bildet, weil sie die Wirklichkeit richtig widerspiegelt und das Machbare erkennen läßt, wird eine Synthese von Plan- und Marktwirtschaft darstellen, indem so viel wie notwendig planend gesteuert wird, um im Interesse der Menschheit notwendige und gewollte Entwicklungen durchzusetzen, aber gleichzeitig so viel wie möglich marktwirtschaftliche Eigeninitiative belassen wird, um die Potenzen der Gesellschaft voll zu entfalten. Es wird damit eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel einhergehen, die nicht per Dekret "Volkseigentum" schafft, sondern die defakto die private Verfügungsgewalt in dem Maße einschränkt, wie es das gesamtgesellschaftliche Interesse erfordert. Das hat es bereits in zahlreichen Ansätzen gegeben. Auch die sozialistische Revolution der Eigentums- und Produktionsverhältnisse wird sich also schleichend vollziehen und nicht mit einem großen Paukenschlag als Folge einer politischen Umwälzung, wie es bis 1989 verordnete sozialistische Revolutions-Lehrmeinung war.

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