Sonntag, 22. Oktober 1989

Reale Utopie und utopische Realität

Eine der Hauptursachen für die ungenügende ökonomische Leistungsentwicklung der sozialistischen Staaten in der Vergangenheit dürfte darin liegen, dass mit der Gestaltung und Abrechnung des gesamtgesellschaftlichen (nationalen) Reproduktionsprozesses als planmäßiger Austauschprozeß zwischen sozialistischen Warenproduzenten die sozialistische Gesellsohaft über kein hinreichend exaktes ökonomisches Instrumentarium verfügt, um den gesellschaftlichen Arbeitsaufwand zu erfassen, das gesellschaftliche Arbeitsvermögen ökonomisch effektiv einzusetzen und die Produzenten dementsprechend zu stimulieren.


Die Organisationsform der sozialistischen Wirtschaft als planmäßige Austauschbeziehungen von Warenproduzenten auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln in den Ländern des realen Sozialismus stellt die realisierte Utopie der französischen Sozialisten des 18./19. Jahrhunderts und zugleich die utopisierte Realität der Gegenwart dar. Denn auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln gibt es ebensowenig einen Austausch von Waren, wie es auf der Grundlage des Privateigentums eine gesellschaftliche Organisation der Produktion geben kann.

Die französischen utopischen Sozialisten der Schule Saint-Simons und die Vertreter des Kleinbürgertums unter der Flagge Proudhons wollten den Grundwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft in Gestalt des Gegensatzes von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung beziehungsweise die daraus resultierenden Krisen dieses Systems dadurch überwinden, dass die Produkte der privaten Produzenten nicht auf einem freien Markt abgesetzt, sondern an eine gesellschaftliche Bank verkauft werden sollten, welche den Wert der Waren unmittelbar zu bestimmen und als gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand direkt in Arbeitszeiteinheiten auszudrücken hätte, also das Geld durch einen Stundenzettel ersetzen würde.

Karl Marx setzte sich damit in seinem Werk „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“ (Dietz Verlag, Berlin 1953) auseinander und schrieb (S. 71 f.f.):
„Die Bank … gibt die Stundenzettel aus. Die Ware a = dem Tauschwert x, d.h. = x Arbeitszeit,tauscht sich aus gegen Geld, repräsentierend x Arbeitszeit. Die Bank müßte ebenso die Ware kaufen, d.h. gegen ihren Geldrepräsentanten austauschen, wie z.B. jetzt die Bank von England für Gold Noten hergeben muß. Die Ware, das substantiel1e und darum zufällige Dasein des Tauschwerts, wird ausgetauscht gegen das symbolische Dasein des Tauschwerts als Tauschwert. Es ist so keine Schwierigkeit, sie aus der Form der Ware in die Form des Geldes umzusetzen. Die Arbeitszeit, die in ihr enthalten ist, braucht nur authentisch verifiziert zu sein … und erzeugt damit sofort ihr contreva1eur; ihr Gelddasein. Wie wir immer die Sache wenden und drehen mögen, in letzter Instanz läuft sie darauf hinaus: Die Bank, die die Stundenzettel ausgibt, kauft die Ware zu ihren Produktionskosten, kauft alle Waren, und zwar kostet ihr das Kaufen nichts als die Produktion von Papierschnitzeln, und gibt dem Verkäufer, anstatt des Tauschwerts, den er in einer bestimnten substantiellen Form besitzt, den symbolischen Tauschwert der Ware, in andren Worten eine Anweisung auf alle andren Waren zum. Belauf desselben Tauschwerts … Also die Bank gibt für die Ware Geld; Geld, das exakt eine Anweisung auf den Tauschwert·der Ware, d.h. auf alle Waren von demselben Wert, ist; die Bank kauft. Die Bank ist der allgemeine Käufer, der Käufer nicht nur dieser oder jener Ware, sondern aller Ware. Denn sie soll eben den Umsatz jeder Ware in ihr symbolisches Dasein als Tauschwert bewerkstelligen. Wenn sie aber der allgemeine Käufer ist, muß sie auch der allgemeine Verkäufer sein, nicht nur das Dock, worin alle Waren deponiert werden, nicht nur _ das allgemeine Warenhaus, sondern der Besitzer der Waren, in demselben Sinn, wie es·jeder andre Kaufmann ist. Ich habe meine Ware a gegen den Stundenzettel b ausgetauscht, der ihren Wert vorstellt; aber nur; damit ich dies b nun beliebig wieder in alle wirklichen Waren c, d, e etc, metamorphosieren kann. Kann nun dieses Geld zirkulieren außerhalb der Bank? Anders als zwischen dem Inhaber des Zettels und der Bank? Wodurch ist die Konvertibilität dieses Zettels gesichert? Es sind nur zwei Fälle möglich. Entweder sämtliche Wareninbaber ~(Produkte der Arbeit) wollen ihre Ware zu ihrem Tauschwert verkaufen, oder einige wollen, andre nicht. Wenn sie alle zu ihrem Tauschwert verkaufen wollen, so werden sie nicht den Zufall abwarten, ob ein Käufer findet oder nicht, sondern gehen sofort zur Bank, treten ihr die Ware ab und erhalten ihr Tauschwertzeichen, Geld, dafür: lösen sie gegen ihr eigenes Geld ein. In diesem Fall ist die Bank zugleich·der allgemeine Käufer und Verkäufer in einer Person. Oder das Gegenteil findet statt. In diesem Fall ist der Bankzettel bloßes Papier, behauptet bloß, das allgemein anerkannte Symbol des Tauschwerts zu sein, hat aber keinen Wert …Die Bank wäre also der allgemeine Käufer und Verkäufer. Statt der Noten könnte sie cheques ausgeben und. statt dieser einfache Bankaccounts führen. Je nach der Summe der Warenwerte, die X an sie abgelassen, hätte er dieselbe Wertsumme in andren Waren an sie gut. Ein zweites Attribut der Bank wäre notwendig, den Tauschwert aIler Waren, d .h die’ in ihnen materialisierte Arbeitszeit, authentisch zu fixieren. Aber hier könnten ihre Funktionen nicht enden. Sie müßte die Arbeitszeit bestimmen, in der die Waren hervorgebracht werden können, mit den Durchschnittsmitteln der Industrie, die Zeit, in der sie hervorgebracht werden müssen. Aber auch das wäre nicht hinreichend. Sie hätte nicht nur die Zeit z bestimmen, in der ein gewisses Quantum Produkte hervorgebracht werden muß, und die Produzenten in solche Bedingungen zu setzen, daß ihre Arbeit gleich produktiv ist (also auch die Distribution der Arbeitsmittel auszugleichen und zu ordnen),·sondern sie hätte die Quanta Arbeitszeit zu bestimmen, die auf die verschiedenen Produktionszweige verwandt werden soll … Das ist noch nicht alles. Der größte Austausch ist nicht der der Waren, sondern der der Arbeit gegen Waren … Die Arbeiter würden nicht ihre Arbeit an die Bank verkaufen, sondern den Tauschwert für das volle Produkt ihrer Arbeit erhalten etc. Genau dann besehn wäre die Bank nicht nur der allgemeine Käufer und Verkäufer, sondern auch der allgemeine Produzent. In der Tat wäre sie entweder die despotische Regierung der Produktion, oder sie wäre in der Tat nichts als ein board, was für die gemeinsam arbeitende Gesellschaft Buch und Rechnung führte. Die Gemeinsamkeit der Produktionsmittel ist vorausgesetzt etc. etc.“
Was war an den Vorstellungen der Saint-Simonisten utopisch? Nichts anderes, als daß sie glaubten, den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, zwischen Produktion _und Markt, zwischen Gebrauchswert und Wert auf der Basis des Privateigentums, durch das Eingreifen einer Tauschbank überwinden zu können, welche die in den Produkten vergegenständlichte Arbeit unmittelbar als gesellschaftliche Arbeit anerkennen und in ihrem natürlichen Maß, der Arbeitszeit, auf Stundenzetteln quittieren sollte.

Und was wäre notwendig, um die Utopie Realität werden zu lassen? Marx hat uns an der zitierten Stelle bereits die Antwort gegeben: Die Produktionsmittel müßten vergesellschaftet werden und die Bank den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß lenken und leiten. Aber was wird umgekehrt, wenn diese Voraussetzungen gegeben sind? Marx schreibt an gleicher Stelle (Seite 88 f.):
„Die Arbeit ‚des Einzelnen, im Akt der Produktion selbst betrachtet, ist das Geld, womit er unmittelbar das Produkt, den Gegenstand seiner besondren Tätigkeit kauft; aber es ist ein besondres Geld, das eben nur dies bestimmte Produkt kauft. Um unmittelbar das allgemeine Geld zu sein, müßte sie von vornherein nicht besondre Arbeit, sondern allgemeine sein, d.h. von vornherein als Glied der allgemeinen Produktion gesetzt sein. In dieser Voraussetzung aber würde nicht erst der Austausch ihr den allgemeinen Charakter geben, sondern ihr vorausgesetzter gemeinschaftlicher Charakter würde die Teilnahme an der Produkten bestimmen. Der gemeinschaftliche Charakter der Produktion würde von vornherein das Produkt zu einem gemeinschaftlichen, allgemeinen machen. Der ursprünglich in der Produktion stattfindende Austausch - der kein Austausch von Tauschwerten wäre, sondern von Tätigkeiten, die durch gemeinschaftliche Bedürfnisse bestimmt wären, durch gemeinschaftliche Zwecke - würde von vornherein die Teilnahme des Einzelnen an der gemeinschaftlichen Produktenwelt einschließen. Auf der Grundlage der Tauschwerte wird die Arbeit erst durch den Austausch als allgemein gesetzt. Auf dieser Grundlage wäre sie als solche gesetzt vor dem Austausch; d.h. der Austausch·der Produkte wäre überhaupt nicht das Medium, wodurch die Teilnahme des Einzelnen an der allgemeinen Produktion vermittelt würde ... Die Arbeit des Einzelnen ist von vornherein als gesellschaftliche Arbeit gesetzt. Welches daher _auch immer die besondre materielle Gestaltt des Produkts sei, das er schafft oder schaffen hilft, - was er mit seiner Arbeit gekauft hat, ist nicht ein bestimmtes besondres Produkt, sondern ein bestimmter Anteil an der gemeinschaftlichen Produktion. Er hat darum auch kein besondres Produkt auszutauschen. Sein Produkt ist kein Tauschwert.- Das Produkt hat nicht erst in eine besondre Form umgesetzt zu werden, um einen allgemeinen Charakter für den Einzelnen zu. Erhalten. Statt einer Teilung der Arbeit, die in dem Austausch von Tauschwerten sich notwendig erzeugt, fände eine Organisation der Arbeit statt, die den Anteil des·Einzelnen an der gemeinschaftIichen Konsumtion zur Folge hat ... Die Arbeit des Einzelnen also unmittelbar zum Ge1d machen wollen (d.h. auch sein Produkt), zum realisierten Tauschwert, heißt sie unmittelbar als allgemeine Arbeit bestimmen, d.h. eben die Bedingungen negieren, unter denen sie zu Geld und Tauschwerten gemacht werden muß, und vom Privataustausch abhängt. Die Forderung kann bloß befriedigt werden unter Bedingungen, worin sie nicht mehr gestellt werden kann.“
Was unterscheidet die Realität der sozialistischen Planwirtschaft auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums in zahlreichen Ländern von der Utopie der Saint-Simonisten? Im Wesentlichen nur das Vorhandensein einer diesem Gesellschafts- bzw. Wirtschaftskonzept entsprechenden materiellen Basis in Form des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und darauf fußender Organisation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Denn was anderes stellen die staatlichen Organe zur Planung und Bilanzierung, Preisbildung usw. dar als die Tauschbank der Saint-Simonisten mit ihren von Marx als __ notwendig aufgezählten Funktionen zur Organisation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, als eben das von Marx charakterisierte. „board, was für die gemeinsam arbeitende Gesellschaft Buch und Rechnung führte“?

Wir dürfen uns von den anders lautenden Bezeichnungen und den unterschiedlichen Organisationsformen in der Praxis der Gegenwart nicht täuschen lassen, sondern müssen das Wesen der Sache betrachten. Dann erkennen wir, daß das, wovon die Utopisten träumten und was Marx wissenschaftlich begründete, bei uns bereits Realität wurde. Die Frage, in welchen Formen und Institutionen uns die Tauschbank heute gegenübertritt, ist sekundärer Natur. Wir finden sie in der Gestalt der staatlichen Plankommission, des Amtes für Preise, der staatlichen Außenhandelsorgane usw. Aber auch in Gesta1t der mit mehr oder weniger hoher Eigenverantwortung ausgestatteten Betriebe und Kombinate oder sonstigen Wirtschaftsvereinigungen. Das entscheidende Charakteristikum der ökonomischen Tätigkeit und Beziehungen aller dieser Institutionen und Wirtschaftseinheiten ist das gesamtgesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln. Welche konkreten Formen und Methoden der Leitung, Planung, der wirtschaftlichen Rechnungsführung und ökonomischen Stimulierung auch immer angewendet werden - die Produktionsmittel und das Produkt sind Eigentum der ganzen Gesellschaft, auf ihre Rechnung wird produziert, sie zieht den Gewinn aus jeder Verbesserung, und sie trägt jeden Verlust aus uneffektiven ökonomischen Maßnahmen. Die sozialistische, auf dem gesamtgesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhende Gesellschaft kann jedes einzelne ihrer Mitglieder und auch Kollektive durch eine entsprechende Gestaltung der gesellschaftlichen Buch- und Rechnungsführung sowie mittels entsprechender Normen usw. für deren konkrete Handlungen, Arbeitsergebnisse usw. _verantwortlich machen, zur Rechenschaft ziehen und „zur Kasse bitten“ Aber sie kann die eigene große Gesamtverantwortung für den Umgang mit dem gesellschaftlichen Eigentum nicht aus der Hand geben und so tun,als ginge sie das Ganze nichts an. Sie kann sich nicht dem Verlust, der sie als gesamtgesellschaftlicher Eigentümer trifft, entziehen. - Es sei denn, die Gesellschaft als Ganzes verzichtet bewußt darauf, den arbeitsteiligen Gesamtprozeß ihren materiellen Bedürfnissen unterzuordnen und davon ausgehend die gesamtgesellschaftliche Produktion zu organisieren. (Daß eine solche Organisation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses auf der Grundlage gesellschaftlichen Eigentums mit einem Höchstmaß an Eigenverantwortung und Entscheidungskompetenz der Wirtschaftseinheiten verbunden sein kann, ja im Interesse hoher ökonomischer Effektivität und Sachkompetenz verbunden sein und durchaus nichts mit Überzentralisation und Bürokratismus zu tun haben muß, ist eine ganz andere Frage.) Aber das wäre dann eben ein Verzicht auf das gesellschaftliche Eigentum und hieße, daß die Beziehungen zwischen den Produzenten wieder durch den Austausch der Produkte als Tauschwerte vermittelt würden. Der Gegensatz von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung mit allen daraus resultierenden Problemen wie Herrschaft des Geldes anstelle gesellschaftlicher Vernunft, gravierende und unkontrollierte Verschärfung sozialer Widersprüche zwischen Arm und Reich, entwickelten und unterentwickelten Gebieten, Überproduktion und Unterkonsumtion, schöpferischer Elite und breiter geistiger Verarmung wäre wieder hergestellt. Er wirkt heute dort, wo die Entwicklung der Menschheit nicht von deren Entwicklungsbedürfnissen, sondern von den Gesetzen des .Geldes bestimmt wird, viel verheerender als vor 150 Jahren, als französische Utopisten ihn überwinden wollten. Denn der technische Fortschritt in seinen heutigen Dimensionen droht zu einer Gefahr für die Menschheit auf unserem gesamten Planeten zu werden, wenn es nicht in absehbarer Zeit gelingt, ihn in seiner ökonomischen Umsetzung von der Unterordnung unter die Gesetze des Geldes, der kurzsichtigen, ja blinden Verwertung von Wert zu befreien und den vernünftigen Lebensinteressen der gesamten Menschheit zu subsumieren. Letzteres verlangt aber, in entsprechenden Maßstäben nicht nur zu denken, sondern auch zu handeln, zu wirtschaften und zu rechnen. (Und sind denn nicht die Bemühungen um Schuldenerlaß für die dritte Welt ein - wenn auch „schielender“, den beschränkten historischen Verhältnissen entsprechender - Ansatz zu weltweitem Wirtschaften und Rechnen?!) Das scheinen allerdings diejenigen Bestrebungen in verschiedenen sozialistischen Ländern zu übersehen, die darauf gerichtet sind, die Wirtschaft stärker durch die Gesetze des Geldes regulieren zu lassen. Sie scheinen auch zu ignorieren, daß die weltweiten Trends, vor allem in den Ländern des Monopolkapitals mit Ihren Tendenzen zu zunehmender weltweiter Planung und Organisation der Produktion unter Beachtung allgemeiner gesellschaftlicher Erfordernisse, die über den unmittelbaren Profit hinaus wirksam werden, zunehmen.

Was unterscheidet die ökonomischen Konzeptionen des realen Sozialismus von denen der französischen Utopisten? Während jene ein sozialistisches theoretisches Konzept auf einer ihm nicht entsprechenden materiellen Basis verwirklichen wollten, postulieren diese auf einer sozialistischen materiellen Basis eine ihr nicht entsprechende Theorie. Allgemein wird nämlich geglaubt, bei den Beziehungen zwischen den Betrieben, die auf der Basis des gesamtgesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln einer gesamtstaatlichen P1anung, Leitung, Abrechnung und Kontrolle unterworfen sind, handele es sich um den Austausch von Waren, der durch Geld vermittelt wird. Zwar gibt es hierbei die verschiedensten Strömungen, die auch alle die Besonderheiten der Warenproduktion und des Geldes im Sozialismus (vor allem die Planmäßigkeit dieser Beziehungen) betonen, aber sie alle widersprechen strikt der Auffassung, halten sie teilweise sogar für absurd oder schädlich, dass das real vorhandene Finanzmittel in den sozialistischen Staaten kein wirkliches Geld ist, sondern die verkappte Form des Stundenzettels, einer - national unterschiedlichen - Arbeitsmarke. Mitunter wird auch behauptet, solche Auffassungen vom~ sozialistischen Geld als Stundenzettel liefen auf primitive naturalwirtschaftliche Konzeptionen hinaus. Marx hingegen hält man zugute, er habe die realen Entwicklungsbedingungen des Sozialismus, die zu Warenproduktion und Geldverhältnissen im Sozialismus führten, nicht voraussehen können. Marx hatte nämlich in seiner Kritik des Gothaer Programms geschrieben:
„Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebenso wenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren.“ (:Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin 1958, Band.II, Seite 15)
Und:
„Er (der einzelne Produzent - H.H.) erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert …, und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. … Es herrscht hier öffenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt. Inhalt und sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum des Einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln.“ (Ebenda, Seite 16)
Natürlich ist die Autorität von Marx weder ein Beweis für die Richtigkeit dieser hier zitierten Auffassung von den ökonomischen Grundbeziehungen im Sozialismus, noch bildet sie einen Grund für den Meinungsstreit, etwa weil Marx aus dogmatischen oder ähnlichen Erwägungen nicht unrecht haben dürfte. Es geht um die Sache, darum, daß die realen Verhältnisse in den meisten sozialistischen Ländern genau so sind, wie Marx sie hier beschrieben hat.

Die Mark beispielsweise, die der Werktätige in der DDR für seine Arbeit im volkseigenen Betrieb bekommt, ist nichts, aber auch gar nichts weiter als eben der von Marx erwähnte·Schein, eine Arbeitsquittung. Was er damit kaufen, erwerben kann, sind Produkte für den persönlichen Bedarf - nichts weiter. Und dies auch nur innerhalb der Grenzen seines Landes, wo dieser Schein, gilt. Woanders will man ihn nicht in Zahlung nehmen. Weshalb? Weil er kein Geld ist, kein allgemeines Äquivalent, mit dem man beliebig handeln und kaufen kann, sondern nur Konsumgüter im Einzelhandel innerhalb der DDR, welche man zum Teil sogar nur mit staatlichen Genehmigungen, Anträgen, Wartezeiten usw.(z.B. Grundstücke, Häuser, PKW usw.) erwerben und nicht einmal nach Belieben außer Landes bringen kann (siehe die lange Liste detaillierter Ausfuhrbeschränkungen für Artikel von Kinderkleidung bis zu Vorhängeschlössern). Und das alles ist durchaus nichts diskreditierendes für die Mark der DDR, wie manche Leute glauben. Es ist nicht die Folge einer eventuellen Schwäche der Mark, sondern wurzelt in der Tatsache, daß die Produktionsmittel und die Produkte - so wie sie den Produktionsprozeß verlassen - Eigentum des Staates sind. Dieser gewährleistet, daß der Bürger - entsprechend seiner Arbeitsleistung und unter Berücksichtigung sozialer Erwägungen - seine individuellen Bedürfnisse befriedigen kann. Der Werktätige kann sein „Geld“ auch gegen Zinsen auf der Bank lassen. Aber er kann es beispielsweise nicht in Immobilien anlegen, außer solchen, die von ihm persönlich oder seinen Kindern genutzt werden, also je Person beispielsweise ein Grundstück oder Haus. Aber auch da schon hat der Staat ein Mitspracherecht, indem ich als Bürger ein bestimmtes Haus nur erwerben kann, wenn ich auf Grund der Personenzahl meiner Familie die notwendige staatliche Genehmigung für den Kauf erhalte. Und auf keinen Fall kann eine Privatperson Produktionsmittel erwerben und einfach Unternehmer werden, um auf diese Weise ihr „Geld“ zu verwerten. (Auf die Rolle staatlich konzessionierter Privatbetriebe in der Gesellschaft des Realsozialismus kann hier aus Platzgründen nicht detailliert eingegangen werden. Hier nur so viel: Sie können den Charakter der ökonomischen Grundbeziehungen in der sozialistischen Gesellschaft nicht umwandeln. Auch Stalin irrte gewaltig in der Annahme, die – formal vorhandene – Warenproduktion im Sozialismus resultiere aus den bestehenden zwei Eigentumsformen, dem staatlichen und dem genossenschaftlichen Eigentum. Hier sei nur die Frage gestellt, inwieweit es sich denn unter den realen Bedingungen zentraler staatlicher Planung, Preisbildung usw. überhaupt um privates oder genossenschaftliches Eigentum handelt!) Und es sei gleich noch einmal betont: Das alles ist nichts Negatives! Es ist so gewollt. Um die gesellschaftliche Produktion den Bedürfnissen der Gesellschaft unterzuordnen und nicht den Bedürfnissen der Kapitalverwertung - darum erkämpfte das Volk,’ mit großen Opfern in vielerlei Beziehung die Macht, vergesellschaftete es die Produktionsmittel, verwandelte es sie in gesellschaftliches Eigentum.

Produktion für die Bedürfnisse der Gesellschaft muß immer auch Produktion auf Rechnung der Gesellschaft sein. Wie auch immer diese Rechnungsführung der Gesellschaft konkret organisiert ist und aussieht - sie soll und muß der Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums dienen. In der ganzen Geschichte der DDR und der meisten andren sozialistischen Länder hat der Staat darüber gewacht und es niemals Sache der Kombinats- und Betriebsdirektoren oder der Betriebskollektive sein lassen, ob und wie sie mit dem gesellschaftlichen Eigentum wirtschaften. Diese konnten weder produzieren was sie wollten noch womit sie wollten. Und über ihre finanziellen Einnahmen konnten und können sie schon gar nicht verfügen, ja nicht einmal über die Mittel der einfachen Reproduktion. Und das soll Warenproduktion und -austausch sein?! Was hat denn das mit Austausch zu tun, wenn über Jahre und Jahrzehnte planmäßig A an B Material liefert, mit welchem B Maschinen für C herstellt, welche diesem wiederum zur Produktion von Konsumgütern für die Bevölkerung dienen, doch (wiederum planmäßig – über die planmäßige Preisbildung und wirtschaftliche Rechnungsführung der Gesellschaft mit all ihren Zu- und Abführungen finanzieller Fonds) A aus den Einnahmen von B nicht seine Produktionskosten decken kann und die Differenz aus dem Staatshaushalt ersetzt bekommt (ohne allerdings die einfache Reproduktion materiell zu realisieren, so dass die freien Finanzmittel schließlich doch – vielleicht auf Umwegen – wieder an den Staatshaushalt zurückgeführt werden), während B von C so hohe Einnahmen erhält, dass seine Kosten und sein Finanzbedarf weit überschritten werden und er Abführungen an den Staatshaushalt vornimmt, so dass bei C die Kosten der Konsumgüterproduktion über deren Verkaufspreis liegen und er deshalb Stützungen aus dem Staatshaushalt bezieht?

Es dürfte eine Tatsache sein, daß die Industriepreise in der DDR zu keinem Zeitpunkt und in keinem Fall tatsächlich dem gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand entsprachen - und wenn doch, dann nur als große Ausnahme. Das kann auch nicht mit irgendwelchen eventuellen Gesetzmäßigkeiten oder Erfordernissen für die Bildung eines sogenannten Reproduktionspreises oder anderen Preistyps, der den planmäßigen Finanzbedarf abdecken soll, gerechtfertigt werden. Denn so, wie vorhandene Finanzmittel noch keinem Betrieb das Recht oder die Möglichkeit geben, Materialien, Rohstoffe und Maschinen zu kaufen oder Arbeitskräfte einzustellen, geschweige denn Löhne zu erhöhen, ebenso wenig war Zahlungsunfähigkeit bisher ein Grund, im Interesse der Gesellschaft geplante Vorhaben „unter den Tisch fallen“ oder Betriebe Konkurs machen zu lassen. Wie sollte gesellschaftliches Eigentum auch unter den Hammer kommen? Wer sollte - auch im Falle gröbster Fehlinvestitionen und Mißwirtschaft - einen „bankrotten“ volkseigenen Betrieb kaufen, übernehmen? Er müßte immer gesellschaftliches Eigentum bleiben. Die Gesellschaft könnte die Betriebsleitung auswechseln, degradieren, die Produktion umstellen, den Betrieb (seine sachlichen Anlagen, Ausrüstungen usw.) einem anderen zuordnen, ja im äußersten Fall die überhaupt nicht mehr brauchbaren Anlagen verschrotten und die Gebäude abreißen. Aber „verkaufen“ könnte sie sie nicht. Und am Ende bliebe ihr immer noch der Grund und Boden für die Landwirtschaft, als Fläche für Erholungsparks oder sonstiges. (Übrigens geht ja auch im Kapitalismus mit dem Bankrott eines Unternehmens - gesellschaftlich gesehen - nichts verloren. Anlagen, Gebäude, Grund und Boden wechseln nur ihren Besitzer) Wer also echte Konkurrenzverhältnisse zwischen so­zialistischen Betrieben schaffen will, der muß grundsätzlich das gesamtgesellschaftliche Eigentum auflösen und in Gruppeneigentum rückverwandeln. Die vollständige Privatisierung infolge eines spontanen sozialen Differenzierungsprozesses wäre dann nur noch eine Frage der Zeit. (Natürlich kann die Gesellschaft dem Riegel vorschieben. Aber dann durchbricht sie schon wieder das Konkurrenzprinzip, nimmt sie gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Interessen war.) Dafür hätten sich allerdings jahrzehntelange entbehrungs- und opferreiche Aufbauarbeit der Volksmassen nicht gelohnt.

Nun mögen die Verfechter der Theorie von Ware und Wert im Sozialismus einwenden, daß es ja gerade darauf ankomme, die sozialistische Wirtschaft „wirk1ich“ dementsprechend zu organisieren, den sozialistischen planmäßigen Warenaustausch „wirklich“ zu entfalten, die Rolle des Geldes zu erhöhen usw., kurz all die „Mängel“ und „Unzuläng1ichkeiten“ der Vergangenheit zu überwinden und beispielsweise das Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel voll durchzusetzen. Zunächst ist festzuste11en, daß ja schon seit Jahrzehnten eine heftige Diskussion zwischen den Theoretikern um die Frage geführt wird, welcher Preistyp den Bedürfnissen der sozia1istischen Gesellschaft am besten gerecht wird - der so genannte Wertpreis, der dem zur Produktion der Ware erforderlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand entspricht, oder der so genannte Reproduktionspreis, der die Kosten für die erweiterte Reproduktion des Betriebes abfängt. Letzteres ist nach dem Konzept der Eigenerwirtschaftung der Mittel erforderlich. Das bedeutet aber, daß die Gesellschaft aufhört, den tatsächlich notwendigen gesellschaftlichen Arbeitsaufwand zu erfassen und in den Preisen auszudrücken. Sie nimmt sich damit selbst die Möglichkeit, ökonomisch exakt zu rechnen und effektiv zu wirtschaften. Denn 1etztendlich reduziert sich alle Ökonomie auf die Einsparung von Zeit. Und dieser Einsparungsprozeß muß kontrolliert werden und kontrollierbar sein. Dazu benötigt die Gesellschaft ein exaktes ökonomisches Instrumentarium, welches der so genannte Reproduktionspreis nicht bietet.

Ein wirklicher „planmäßiger Warenaustausch“ erfordert aber zugleich auch einen planmäßigen sogenannten Relationspreis, der die Substituierbarkeit der Produkte „berücksichtigt und entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen stimuliert. Um beispielsweise den Ersatz von Erdöl durch Braunkohle ökonomisch zu stimulieren, müssen die Rohstoffpreise entsprechend gestaltet werden. Sie entsprechen damit weder dem tatsächlichen gesellschaftlich3ll Arbeitsaufwand noch dem planmä3igen Finanzbedarf für die erweiterte Reproduktion. Wir sehen hier - und die 40jährige Entwicklung der Wirtschaft in der DDR hat es mit ihren dauernden Experimenten in der Praxis gezeigt -, daß sich aus den unterschiedlichen Funktionen des Geldes als Maß des Warenwertes (gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwandes), als Zirkulationsmittel (auch Stimulationsmittel) und als Akkumulationsmittel (Finanzierungsmittel der erweiterten Reproduktion) völlig unterschiedliche und sich widersprechende Anforderungen an die Preisbildung in einer als planmäßige „Warenproduktion“ organisierten sozialistischen Wirtschaft ergeben. Unter kapitalistischen Bedingungen löst sich dieses Problem des Widerstreits der verschiedenen Geldfunktionen von selbst - durch seine Unterordnung unter das Gesetz der Kapitalverwertung, die letztendlich als oberstes Gesetz alle Verhältnisse und Bedingungen in der Wirtschaft bestimmt.

Die sozialistische Gesellschaft muß·sich entscheiden - logischerweise für eine exakte gesellschaftliche „Buch- und Rechnungsführung, welche ganz systematisch die anfallenden Kosten der gesellschaftlichen Produktion statistisch erfaßt und auf die Produkte verrechnet, einschließlich der Berücksichtigung außenwirtschaftlicher Beziehungen. Dazu hat sie - ebenfalls statistisch - beim Export das reale Durchschnittsverhältnis von nationaler und ausländischer (internationaler) Währung zu ermitteln und dieses Verhältnis beim Umrechnen der Importpreise (in ausländischer Währung) auf nationale Währungseinheiten für die nationale Buch- und Rechnungsführung in Ansatz zu bringen.

Wir haben bereits gesehen, daß die real existierenden Institutionen wie Plankommissionen, Preisbildungs- und -überwachungsorgane, Kombinate, Betriebe usw. usf. ihrem Wesen nach nichts anderes sind als jenes von Marx beschriebene „board, was für die gemeinsam arbeitende Gesellschaft Buch- und Rechnung führte“. In seiner konkreten Struktur hat dieses staatliche Leitungssystem der Wirtschaft schon viele Veränderungen erfahren, die es durch Erhöhung der Eigenverantwortung und Verlagerung von Entscheidungskompetenzen an die Basis (Betriebe und Kombinate)effektiver gemacht haben. Das betrifft insbesondere die Gestaltung der materiellen Beziehungen. Völlig ungenügend ist die Entwicklung des finanziellen Instrumentariums. Das bisher entwickelte System der „wirtschaftlichen Rechnungsführung“ ermöglicht es der Gesellschaft nämlich nicht, die anfallenden Kosten exakt zu erfassen und widerzuspiegeln.

Die Ursache dafür ist das falsche theoretische Grundverständnis, die utopische Vorstellung, wir hätten es in der auf Gemeineigentum beruhenden Gesellschaft mit sozialistischen Warenproduzenten zu tun, die ihre Produkte planmäßig herstellen und austauschen und auf dieser Grundlage eine „eigene“ „Gewinn- und Verlustrechnung“ anstellen müssen. Doch es ist eine Illusion zu glauben, dass unter den realen Bedingungen staatlicher Planung und Preisbildung in den sozialistischen Ländern die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben eines Betriebes oder Kombinats objektiv widerzuspiegeln vermag, ob und in welchem Maße die Tätigkeit dieser Wirtschaftseinheit für die Gesellschaft als Ganze effektiv ist oder nicht, denn die Gesellschaft bestimmt ja den Grad dieser Effektivität durch die planmäßige Preisbildung von vornherein. Die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben vermag die Effektivität nicht einmal in dem Sinne objektiv widerzuspiegeln, daß die Gesellschaft den betrieblichen, kollektiven „Warenproduzenten“ mit Kennziffern wie Kosten Preise und Gewinne planmäßig Normen vorgibt, deren Erfüllung zeigt, ob und inwieweit diese kollektiven Produzenten effektib (entsprechend dem Plan) gewirtschaftete haben. Denn die Erfüllung dieser Kennziffern hängt von außerordentlich vielen Faktoren ab, von denen die meisten gar nicht durch das Betriebskollektiv zu beeinflussen, zu entscheiden und zu verantworten sind.

So gesehen stellen die tatsächlichen Verhältnisse in der DDR und anderen sozialistischen Ländern in ihrer konkreten Gestaltung einerseits eine reale Utopie, andererseits aber gleichzeitig eine utopische Realität dar. Sie sind nämlich einerseits die realisierten Ideale der Saint-Simonisten, indem sie in der Gestalt des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung überwunden haben. Aber in der Organisationsform sozialistischer „Warenproduzenten“ sind sie utopisch, unreal, der Wirklichkeit nicht entsprechend, existieren sie nur in unserem Bewusstsein. Um sozialistische Warenproduzenten handelt es sich nur dem Namen nach, weil es sie in der Wirklichkeit nicht gibt und nicht geben kann, denn der Staat kann nicht mit sich selbst in Austauschbeziehungen treten.

Was dem realen Sozialismus daher nottut, ist nicht mehr Markt und mehr Geld, sondern ein exaktes System gesamtgesellschaftlicher Buch- und Rechnungsführung, das nicht nur den betrieblichen, sondern den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozeß wirklichkeitsgetreu abrechnet. Dies muß eine genaue Erfassung der gesellschaftlichen (Produktions-)Kosten von Produktionsstufe zu Produktionsstufe sein. Es wäre dies die buchmäßige Widerspiegelung der realen Bewegung der gesellschaftlichen Arbeit durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß - von ihrer Verausgabung als lebendige Arbeit bis zu. ihrer Konsumtion als vergegenständlichte Arbeit (Ausscheiden aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß und aus der gesellschaftlichen Buchführung) - in welcher Arbeits- oder Währungseinheit auch immer.

Eine solche Organisation der gesellschaftlichen Buchführung als Buchführung eines großen, kollektiven, die ganze Gesellschaft umfassenden Produzenten könnte durchaus mit einem Höchstmaß an Selbständigkeit und Eigenverantwortung der verschiedenen Produktionsabschnitte (Betriebe, Kombinate usw.) verbunden sein. Entscheidend dafür, daß diese dann auch immer entsprechend ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung handeln, wäre, daß sie nicht zu „betriebsegoistischem“ Verhalten ökonomisch gezwungen (angeregt) werden und informatorisch (durch adäquate Informationen)in die Lage versetzt werden, entsprechend den gesamtgesellschaftlichen Interessen zu handeln.

Entscheidendes Kriterium für ökonomischen Fortschritt wäre in einem solchen System der gesellschaftlichen Buchführung nicht ein in irgendwelchen (meist unrealen) Kennziffern ausgedrücktes ökonomisches Wachstum, sondern die Senkung des gesellschaftlichen Arbeitsaufwandes je Erzeugnis (Gebrauchswerteinheit). Zunehmender gesellschaftlicher Reichtum könnte sich (ganz im Sinne eines objektiven gesellschaftlichen Interesses) nur in mehr Gebrauchswerten darstellen, deren gesamte Wertsumme (Masse der in ihnen vergegenständlichten gesellschaftlichen Arbeit) sich nur wenig verändern kann, weil sich die Verausgabung von Arbeit durch die Gesellschaft nur wenig verändert.

Ein so gestaltetes ökonomisches System würde den jetzt dominierenden Zustand überwinden, daß wir zwar den Gebrauchswert als eigentliches Mittel für die Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft theoretisch zur Zielgröße der gesellschaftlichen Produktion erklären, in der Praxis aber Wertkennziffern als Zielgrößen vorgeben, deren Erfüllung die kollektiven „Warenproduzenten“ mit allen Kräften anstreben, ungeachtet dessen, ob dies gesellschaftlich effektiv ist oder nicht. Mit der Organisierung der gesellschaftlichen .Produktion als Kooperationsprozeß sozialistischer „Warenproduzenten“ wurden tatsächlich von der Organisationsform des gesellschaftlichen Eigentums her Bedingungen geschaffen, die betriebsegoistisches Verhalten im Gegensatz und zum Schaden der Gesellschaft als ganze hervorbringen müssen, auch wenn es sich natürlich nicht um einen wirklichen Austausch von Waren handelt (der ja auch gar kein in diesem Sinne definiertes Interesse der Gesellschaft als ganze kennt). Um diesen künstlich geschaffenen, nicht in der Natur des gesellschaftlichen Eigentums liegenden Widerspruch zwischen Produzentenkollektiven und Gesellschaft zu überwinden, ist es erforderlich, das utopische Element in unserer Realität zu beseitigen und über gesamtgesellschaftliches Eigentum nicht mehr in einer Weise Rechnung zu führen, als handele es sich um Eigentum von Genossenschaften, Kollektiven, die ihre Produkte austauschen.

Eine solche gesamtgesellschaftliche Buch- und Rechnungsführung brauchte nichts zu tun zu haben mit primitiver kommunistischer (im Sinne maoistischer) Gleichmacherei, die jeden persönlichen materiellen Anreiz erlöschen läßt und zu materieller Desinteressiertheit und ökonomischer Stagnation führt. Denn das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln hebt die Unterschiede in der Quantität und Qualität der Arbeitsleistungen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft nicht auf. Die unterschiedliche soziale Wertigkeit der einzelnen Tätigkeiten muß sich niederschlagen in der Verausgabung von unterschiedlich viel gesellschaftlicher Arbeit pro Zeiteinheit durch den Einzelnen. Aber diese Unterschiede kann die Gesellschaft weder „errechnen“ noch formal festlegen, sondern nur in dem Sinne ermitteln, daß die pro Zeiteinheit gezahlten Löhne (Gehälter) so strukturiert werden, daß die daraus resultierende materielle Stimulierung die Verrichtung aller gesellschaftlich notwendigen Arbeiten gewährleistet. Es findet also in diesem Sinne ein echter Wettbewerb, eine soziale Auseinandersetzung zwischen (nicht mehr privaten Warenproduzenten oder kapitalistischen Unternehmern bzw. zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern, sondern) den einzelnen Mitgliedern der auf der Basis des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln produzierenden sozialistischen Gesellschaft statt. Das A und O jeglicher sozialistischer Lohnpolitik und Verteilung nach der Leistung war und ist letztendlich immer die Frage bzw. das Problem, über die Struktur der Löhne (Gehälter) pro Zeiteinheit bei allen Mitgliedern der produzierenden Gesellschaft eine solche Struktur der Arbeitsbereitschaft zu erzeugen, dass sämtliche gesellschaftlich notwendigen Arbeiten verrichtet werden. (Die Umwandlung dieses Zeitlohnes in einen Stück- oder andersartigen Leistungslohn ist immer eine zweitrangige, sekundäre Frage.) Dieser soziale Auseinandersetzungsprozeß, der mit der Entlohnung verbunden ist, ist bei uns das einzige Medium, die einzige Sphäre, in der die Arbeit des Einzelnen auf gesellschaftliche Durchschnittsarbeit reduziert wird. Denn im so genannten „Austausch“ der „Waren“ zwischen den sozialistischen Produzenten oder anderswo, beispielsweise mit der staatlichen Preisbildung, findet diese Reduktion nicht statt, weil der Staat einfach Festlegungen trifft, die der sozialen Komponente entbehren, außerhalb des sozialen Spannungsfeldes liegen. Die Reduktion als Prozeß sozialer Auseinandersetzung, sozialen Wettbewerbs, findet auf der Basis des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln nicht als Austausch (in Waren) vergegenständlichter Arbeit, sondern als Austausch und Bewertung lebendiger Arbeit statt. (Nur in dieser Form existiert sie ja unter sozialistischen Verhältnissen als besondere, individuelle Arbeit, kann sie ausgetauscht werden.) Der Werktätige erhält von der Gesellschaft eine Bescheinigung, dass er soundso viel Arbeit geleistet hat – der eine beispielsweise zehn Einheiten (Mark, Rubel, Forint oder was auch immer) pro Stunde, der andere eine, zwei oder sonstwie viel. Er verausgabt und vergegenständlicht sie. Und von diesem Moment an bewegt sie, seine verausgabte und vergegenständlichte Arbeit, sich durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß von Produktionsstufe zu Produktionsstufe (bzw. Produktionsabschnitt) bis sie den gesellschaftlichen Produktionsprozeß als Konsumtionsmittel verlässt und aufhört, gesellschaftliches Eigentum zu sein. Und darüber wird Buch geführt. Die Gesellschaft quittiert dem Werktätigen die von ihm geleistete Arbeitsmenge als Guthaben und bucht sie gleichzeitig in der gesellschaftlichen Buchführung als Kost, Arbeit, welche die Herstellung des entsprechenden Produkts die Gesellschaft gekostet hat, denn dem Produkt selbst ist nicht anzusehen, wie viel Arbeit in ihm steckt. Auf diese Weise erfährt die vergegenständlichte Arbeit eine zweifache ideelle Widerspiegelung: In Form des Lohnes des Werktätigen und in Form der Produktionskost der Gesellschaft in deren Buchführung.

Die gesellschaftliche Buch- und Rechnungsführung hat die Aufgabe, die Verausgabung von gesellschaftlicher Arbeit und deren Vergegenständlichung sowie Bewegung durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß widerzuspiegeln. Sie hat also die Kosten des gesellschaftlichen Produkts statistisch zu erfassen. Der Ursprung des „Geldes“ im Sozialismus, die Sphäre seiner Entstehung, ist also die Quittierung der verausgabten lebendigen Arbeit sowohl als Forderung des

Einzelnen gegenüber der Gesellschaft in Form seines Lohnes als auch als Schuld der Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern in Form der Kosten der gesellschaftlichen Produktion. In der Kostenrechnung der Gesellschaft durchläuft das ideelle Spiegelbild der gesellschaftlichen Arbeit den gleichen stufenweisen Prozeß wie das unsichtbare, reale Original der vergegenständlichten Arbeit. In der Kostenrechnung folgt gewissermaßen die ideel1e Daseinsform wie ein Schatten der realen Bewegung der vergegenständlichten Arbeit durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß, bis sich diese in ein Konsumtionsmittel verwandelt hat. Als solches verläßt sie, die vergegenständlichte Arbeit, den gesellschaftlichen Produktionsprozeß und geht im Austausch gegen die bei ihrer Verausgabung verteilten Arbeitsquittungen aus dem Eigentum der Gesellschaft in das (private) Eigentum ihrer einzelnen Mitglieder über. Die Forderungen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft heben an dieser Stelle, in diesem Moment die entsprechenden Verbindlichkeiten der Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern auf, beide löschen sich mit dem vollzogenen Austausch gegenseitig aus. Der Lebensweg des sozialistischen „Geldes“ von seiner Entstehung als Quittung und Schuld für geleistete Arbeit bis zu seiner Tilgung durch Lieferung entsprechender Konsumtionsmittel aus dem gesellschaftlichen Fonds ist beendet. (Die Tatsache, dass die Scheine wieder und wieder bis zu ihrem Verschleiß und Ersatz durch neue verwendet werden, ändert ebenso wenig an dem hier beschriebenen Tatbestand wie der Umstand, dass das „Geld“ teilweise gar nicht die Existenzform von Banknoten annimmt, sondern nur auf Buchungskonten existiert und mit Schecks oder sonstigen Zahlungsanweisungen bewegt wird.)

Daß die Gesellschaft tendenziell den Fonds der im Produktionsprozeß sich bewegenden vergegenständlichten Arbeit ausdehnen, also akkumulieren und daher bzw. insofern ein Mehrprodukt erzeugen muß, so dass sie – und jedes ihrer Mitglieder – in der entsprechenden Periode weniger vergegenständlichte Arbeit für die Konsumtion zur Verfügung hat, als sie lebendige verausgabt, berührt die hier entwickelten Zusammenhänge in keiner Weise. Wichtig ist nur, zu erkennen, dass die hier geschilderten Verhältnisse dem Wesen unserer ökonomischen Realität entsprechen, nicht – je nach den Intentionen der sozialistischen Länder – hergestellt werden können oder nicht, sondern bereits real vorhanden sind, wenn auch in verschleierter Form und in den unterschiedlichsten nationalen Farben.

Die Bewegung der gesellschaftlichen Arbeit in vergegenständlichter Form durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß von ihrer Verausgabung als lebendige Arbeit bis zu ihrer Konsumtion als vergegenständlichte Arbeit ist eine Realität. Um diesen ganzen gesellschaftlichen Produktionsprozeß effektiv gestalten zu können, muß die Gesellschaft in ihrer Buchführung die Verausgabung, Bewegung und Konsumtion ihrer Arbeit real erfassen und widerspiegeln. Zur Zeit entspricht die gesellschaftliche Buch- und Rechnungsführung auf Grund eines fundamentalen Mißverständnisses der sozialistischen Produktionsverhältnisse in keinem sozialistischen Land der realen Bewegung der vergegenständlichten Arbeit bzw. spiegelt sie deren Bewegung durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß nicht real wider, sondern verzerrt sie diese, so dass alle ökonomischen Effektivitätsberechnungen (sowohl auf der Ebene der Betriebe und Kombinate – hier nicht zuletzt durch „erzwungene“, stimulierte, betriebsegoistisch nur die Plankennziffernerfüllung erwägende Betrachtungsweisen – als auch auf der Ebene der Zentrale) illusionär sein müssen. Hierin besteht wahrscheinlich die Hauptursache für die ungenügende ökonomische Leistungsentwicklung der sozialistischen Länder in den letzten Jahren und Jahrzehnten.

Nachträgliche Anmerkung:

Der Beitrag wurde 1989 der Redaktion „Wirtschaftswissenschaft“, Berlin, und der Redaktion „Woprossy Ekonomiki“, Moskau, angeboten.

Von der „Wirtschaftswissenschaft“ wurde der Beitrag auf Grund des folgenden Gutachtens abgelehnt (Abschrift):

„Gutachten: H. Hummel, Reale Utopie und utopische Realität

Der Autor ist der Meinung, dass mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel die Warenproduktion real aufhören muß zu existieren, dass die SPK, das Amt für Preise und andere zentrale staatliche Behörden real die Rolle der Tauschbank spielen müßten, von der Marx in den Grundrissen im Zusammenhang mit der Überwindung des Privateigentums und damit der Ware-Geld-Beziehungen sprach. Der Autor ist der Meinung, dass die wirklichen Mängel der sozialistischen Wirtschaft dadurch zu erklären seien, dass die Gesellschaft in ihrer Buchführung die reale Bewegung der vergegenständlichten Arbeit nicht richtig erfaßt und widerspiegelt, weil sie unter dem Mißverständnis leidet, dass im Sozialismus Warenproduktion herrsche.

Diese immer wieder im Verlauf der letzten 70 Jahre auftauchende Diskussion beruht meiner Meinung auf dem ahistorischen Herangehen an die Frage.

Mit der Überführung der Pm in Staatseigentum ist noch keine wirkliche Vergesellschaftung erreicht. Zweitens müssen die Universalität der Bedürfnisse durch die Produktion von Reichtum, durch Produktion der Produktion wegen, erreicht werden, bevor die Gesellschaft weitergehen kann und die Universalität der Fähigkeiten als menschliches Kriterium anstreben kann. Dazu ist, wovon Marx gar nicht sprach und was er wahrscheinlich auch unterschätzte, eine ganze Epoche nötig, denn wir befinden uns nicht im „entwickelten Sozialismus“, sondern in der Anfangsetappe der Übergangsperiode. In dieser Etappe ist die Warenproduktion auch für die Demokratie, für die Erringung der Freiheit, für die Herausbildung der vorwärtstreibenden Interessen unerläßlich. Ich will nicht darüber orakeln, ob der Gesellschaftszustand, der Marx vorschwebte, einmal erreicht wird. Für heute ist die Fragestellung des Autors unhaltbar, sie hat uns in die Misere geführt, sie beschreibt richtig den beschränkten Zustand, über den wir hinaus müssen.“

Dazu ich, H. H.: Wer dieses Gutachten verfaßte, ist nicht bekannt. Sein Autor hat offenbar wenig oder nichts verstanden, kann nichts verstehen, weil er im überkommenen Denken des Realsozialismus gefangen und offenbar nicht in der Lage ist, sich die Verhältnisse des Realsozialismus einmal aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten. Denn auf diese andere Perspektive des Artikels, das dadurch anders zu verstehende Wesen der realsozialistischen Erscheinungen, geht er gar nicht ein. Er widerlegt nicht (theoretisch-logisch), sondern stellt Behauptungen in der überkommenen Phraseologie auf.

Joachim Fernau formulierte es einmal so:
"Nun haben Universitätsprofessoren in höherem Maße als alle anderen Menschen, ausgenommen Politiker, die Eigenschaft, keine Notiz von der Meinung anderer zu nehmen, wieder ausgenommen derer, die der gleichen Meinung sind wie sie."

(Aus: Joachim Fernau, Rosen für Apoll, Wilhelm Goldmann Verlag, 1981)

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