Freitag, 22. Oktober 1976

Neue Gedanken, aber Halbheiten

Buchbesprechung zu „Theoretische Probleme der Ware-Geld-Beziehungen im entwickelten Sozialismus“, Autorenkollektiv, Verlag Die Wirtschaft, Berlin 1976



Die Broschüre (116 Seiten) gliedert sich in folgende Abschnitte:
  • Notwendigkeit, Wesen und Funktion der Warenproduktion im Sozialismus; Zum Verhältnis von Gebrauchswert und Wert; Inhalt und Funktionen des Geldes;
  • Das Gesetz der Verteilung nach der Arbeitsleistung und das ökonomische Grundverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft; Inhalt und Entwicklungstendenzen des volkswirtschaftlichen Preisniveaus;
  • Der Bankkredit - Element der sozialistischen erweiterten Reproduktion.
Zu allen diesen Problemen werden Gedanken entwickelt, die neu sind oder viele Leser anregen dürften, über die Erscheinungen in der sozialistischen Volkswirtschaft und ihre Zusammenhänge erneut nachzudenken.

Die Warenproduktion im Sozialismus leiten die Verfasser konsequent aus der notwendigen materiellen Stimulierung der Betriebskollektive ab, wie überhaupt der Ansatzpunkt zur Lösung aller wesentlichen ökonomischen Probleme im Sozialismus in der richtigen materiellen Stimulierung gesucht wird. Sie arbeiten heraus, daß die Ware-Geld-Beziehungen im Sozialismus „bewußt von der Arbeiterklasse und ihrem Staat genutzte und gesetzte Formen, Elemente und Mittel zur planmäßigen proportionalen und effektiven Gestaltung des sozialistischen Reproduktionsprozesses entsprechend dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus“ sind. (S. 24) Und wenn es auf Seite 27 heißt: „Die Warenproduktion kann im Sozialismus als wesentliche Erscheinung nur ein Element der planmäßigen Entwicklung sein“, so werden damit eben wichtige Akzente für Theorie und Praxis gesetzt.

Lehrreich sind die Hinweise auf die Auffassungen von Marx, Engels und Lenin über die Warenproduktion im Sozialismus sowie die Auseinandersetzung der Autoren mit revisionistischen Auffassungen von Plan und Markt im Sozialismus. "Die Arbeit", so schreiben die Verfasser, "erhält einen Doppelcharakter dann, wenn die Arbeit zwei gesellschaftliche Funktionen auszuüben hat: wenn sie einmal als Faktor der Gebraucnswertproduktion und zum anderen als Faktor und Maß der Verteilung der gesellschaftlichen Gebrauchswerte unter den Produzenten zu fungieren hat." "Der mit der Ausnutzung der kollektiven materiellen Interessiertheit verbundene Äquivalentenaustausch zwischen sozialistischen Betrieben erfordert zwangsläufig die abstrakte Arbeit als Maß der Verteilung der Produkte. Damit haben die Arbeit und die Produkte der Arbeit im Sozialismus Doppelcharakter. Das Produkt tritt im Sozialismus als Träger von Wert und Gebrauchswert und damit als Ware auf." (Seite 31) Die Verfasser sprechen von einer Umkehrung des Verhältnisses von Gebrauchswert und Wert im Sozialismus, weil das Ziel der sozialistischen Produktion nicht die Produktion von Wert oder Mehrwert, sondern die Produktion von Gebrauchswert ist.

Die Notwendigkeit des Geldes leiten die Autoren "aus den inneren Bewegungserfordernissen des Sozialismus"ab und formulieren: "Die Waren- und Geldzirkulation realisiert die in der Produktion bestehenden Äquivalenzbeziehungen im Distributions- und Zirkulationsprozeß.“ (S. 43 f.) „Das Geld ist – allgemein gesehen - Anspruch auf den materiellen gesellschaftlichen Reichtum." (Seite 44 f) Im Sozialismus ist es sozialistisches Geld, „da es sozialistische Produktionsverhältnisse zum Ausdruck bringt, und die Bewegungsweise des Geldes sowie seine Wirkungsrichtung erhält es durch das Ziel der sozialistischen Produktion, und es unterliegt dem Gesetz dar planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft." (Seite 45) Um die Auffassung der Autoren, daß das Geld im Sozialismus Kreditgeld und nicht einfaches Papiergeld sei (Seite 64), besser zu verstehen, sollte der Leser den Abschnitt über den Bankkredit beachten, wo es beispielsweise unter Bezugnahme auf sowjetische Ökonomen heißt, "daß zwischen dem Geldumlauf und dem Kredit ein enger Zusammenhang besteht, der nicht auf Umverteilung zeitweilig, freier Geldmittel reduziert werden kann.“ (Seite 110). "Es findet genau genommen bei der Kreditgewährung durch die Banken eine Emission von Kreditgeld zur Vermittlung der einfachen und erweiterten Reproduktion statt." (Seite 111)

Die Verteilung nach der Leistung wird in der Broschüre im wesentlichen mit der notwendigen materiellen Stimulierung im Sozialismus begründet. (Seite 77 ff) Dabei arbeiten die Verfasser eine Reihe von Elementen "der sozialistischen Reproduktion der Werktätigen" heraus, die sich im Leistungsprinzip vereinigen müssen. (Seite 79 f)

Bei der plänmäßigen Gestaltung des Preisniveaus geht es den Verfassern darum, „das Verhalten der Werktätigen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft so zu lenken, daß die Effektivität des Reproduktionsprozesses erhöht wird.“ (Seite 94). Gerade im entwickelten Sozialismus gehe es nicht schlechthin darum, "daß die Entwicklung der Arbeitsaufwendungen widergespiegelt wird, sondern daß der Arbeitsaufwand so widergespiegelt wird, daß die Werktätigen an seiner Senkung interessiert werden." (Seite 94f)

Die Broschüre darf als wertvolle Lektüre auch für die studentische Jugend angesehen werden, weil sie nicht vereinfacht, sondern Probleme und unterschiedliche Auffassungen erkennen läßt, womit sie zu selbständigem Denken und zur eigenen Meinungsbildung anregt. Damit gibt sie gleichzeitig zahlreiche Ansatzpunkte zur Polemik, besonders Lesern, die auf anderen Grundpositionen stehen und in Übereinstimmung mit den Klassikern der Auffassung sind, daß es im Sozialismus keine Warenproduktion gäbe. Keiner dieser Leser, sofern er nur etwas Sinn für Ökonomie besitzt, wird behaupten, man könne mit den Kategorien der "Warenproduktion im Sozialismus" "nach Gutdünken" verfahren, wie es die Verfasser unterstellen. (Seite 12) Keiner dieser Leser wird die „hundertfach überprüften Erfahrungen" leugnen, die übrigens auch darin bestehen, daß mit den Kategorien verschieden "verfahren" wurde und wird. Doch ziehen sie aus diesen Erfahrungen andere Schlüsse auf das Wesen der Sache. Ist es nicht eine Halbheit, wenn die Autoren der Broschüre feststellen, die Warenproduktion im Sozialismus „muß Warenproduktion und Nichtwarenproduktion zugleich sein“? (S. 14) Ja warum wird überhaupt so verbissen versucht, die Warenproduktion im Sozialismus zu „begründen“, ihre „Ursachen“ zu entdecken? Meist wird dabei über einzelne Kategorien und Teilprobleme gestritten, die aus dem Zusammenhang des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses mehr oder weniger herausgelöst werden. Sollte nich lieber dieser volkswirtschaftliche Reproduktionsprozeß analysiert und – ausgehend von der Praxis - in seiner inneren Logik dargestellt werden?

Anhand der Praxis hätten die Verfasser zum Beispiel zeigen sollen (leider wurde auf die Beantwortung dieser Frage bewußt verzichtet), "wie das Gold heute - bei ausschließlicher Geldstellvertreterzirkulation - seine Funktion als Wertmaß und Preismaßstab erfüllt". (Seite 47) Zumal dies sicher eine der Kardinalfragen ist, die auch 4 Marx im Auge hatte, als er schrieb: "Konvertibilität in Gold und Silber ist also praktisches Maß des Wertes jeden Papiergeldes, das seine Dennomination vomGold oder Silber erhält, das Papier sei legal konvertibel oder nicht. Ein Nominalwert läuft nur als Schatten neben seinem Körper her, ob beide sich decken, muß die wirkliche Konvertibilität (Austauschbarkeit) derselben beweisen.“ (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Dietz Verlag Berlin 1953, Seite 51 f).

Wenn das im Sozialismus umlaufende Geld Kreditgeld ist, wie die Autoren darlegen, und jeder reale Bezug zum Gold aufgehoben ist, wie kann dann die in einem Produkt vergegenständlichte gesellschaftlich notwendige Arbeit, der Wert, im Gebrauchswert eines anderen Produkts (des Goldes) dargestellt und wirklich gemessen werden? Wenn die Gleichsetzung zweier Waren (Gebrauchswerte), das heißt der in ihnen vergegenständlichten Arbeiten, gar nicht mehr stattfindet, kann das Messen der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auch nicht mehr in ihrer vergegenständlichten Daseinsweise erfolgen. (Als bereits vergegenständlichte Arbeit muß sie im Gebrauchswert eines anderen Produkts gemessen werden, weil die Arbeit selbst nur in ihrer lebendigen Verausgabung messbar existiert.)

Die Messung muß also schon in der noch lebendigen Existenzweise der Arbeit stattfinden. Das geschieht bei der Lohnzahlung und bei der Erfassung der Lohn- als gesellschaftliche Produktionskosten. Der Gedanke kann hier nicht weiter entwickelt werden, doch zeigt sich, daß man, wenn die Fragen der Warenproduktion und des Geldes noch stärker in die Reproduktionstheorie der sozialistischen Volkswirtschaft eingeordnet werden, zu neuen Schlußfolgerungen kommen kann, die letztlich die Auffassung der Klassiker von der Wirtschaftsführung im Sozialismus bestätigen.

Und noch eine kritische Bemerkung: Die Verfasser begründen die Verteilung nach der Leistung zu Recht im wesentlichen mit der notwendigen materiellen Stimulierung im Sozialismus. (Seite 76 ff) Führte man diesen Gedanken mit Konsequenz zu Ende, so müßte man das Leistungsprinzip, also das Maß der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, auf das Problem der materiellen Stimulierung reduzieren. Die Verfasser sehen dieses Maß aber in verschiedenen "Elementen der sozialistischen Reproduktion der Werktätigen" (Seite 79) bzw. in allen historisch notwendigen Bedürfnissen der Werktätigen (Seite 82). Die von den Verfassern entwickelten Kriterien können wohl kaum das Prinzip "gleiche Arbeitseinkommen für gleiche Arbeitsleistung" (Seite 81) durchsetzen. Die allgemeinen Erfahrungen scheinen doch zu zeigen, daß die Stimulierung einer planmäßigen proportionalen Verteilung der Arbeitskräfte und ihrer entsprechenden Qualifizierung im allgemeinen gesetzmäßigen Zusammenhang ausschlaggebender Faktor für die Einkommensrelationen in der Volkswirtschaft ist. (Das durchschnittliche Einkommensniveau ist abhängig von der Leistungskraft und den Reproduktionsbedingungen der Volkswirtschaft). Die Anwendung leistungsstimulierender Lohnformen ist ein ganz anderes Problem, das bereits Marx dem Wesen nach löste, als er das Verhältnis von Zeitlohn und Stücklohn (allerdings für kapitalistische Verhältnisse) klärte.

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