Heerke Hummel
H. Hummel, Am Plessower See 154, 14542 Werder/Havel; Tel.:
+49/3327/42157; E-Mail: heerke.hummel@web.de
Europäische Zentralbank
Präsident M. Draghi
Sonnemannstraße 20
60314 Frankfurt am Main
31. Dezember 2015
Betreff: Europas Zukunft und
die EZB
Sehr geehrter Herr Präsident!
Die Europäische Union droht
an den divergierenden Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu zerbrechen.
Vorläufiger Höhepunkt der Krise war in dem nun zu Ende gegangenen Jahr das
europäische Flüchtlingsdrama. Sogar mehrere Treffen der Regierungschefs
vermochten es nicht, in dieser Frage einer Einigung näher zu kommen. Im
Gegenteil, die zentrifugalen Kräfte in der EU scheinen stärker zu werden. Als
studierter Volkswirt und deutscher Staatsbürger sehe ich sehr wohl die große
Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland in dieser Frage wie auch in Bezug
auf die Politik der Europäischen Union im Allgemeinen. Sie resultiert aus der
Rolle Deutschlands als europäische Großmacht in ökonomischer und politischer
Hinsicht. Dennoch wende ich mich an Sie als Präsident der EZB, Herr Draghi,
weil ich der Meinung bin, dass angesichts der desolaten wirtschaftlichen und
politischen Situation Europas keine andere Kraft die Macht besitzt, das Schiff
Europa aus dem Schlingern in ruhige Fahrwasser und auf einen stabilen Kurs zu
lenken. Ich habe dies auch der Bundeskanzlerin A. Merkel vor einem Monat in
einem Schreiben mitgeteilt und ihr nahegelegt, ihren bedeutenden Einfluss
dahingehend geltend zu machen. Bis heute habe ich darauf keine Antwort erhalten.
Darum wende ich mich hiermit direkt an das Direktorium der Europäischen
Zentralbank und an Sie persönlich, Herr Präsident.
Der deutschen Bundeskanzlerin
legte ich dar, dass ich die entscheidenden Ansatzpunkte für die Lösung des
Flüchtlingsproblems auf ökonomischem Gebiet sehe. Die Politik muss dabei mit
eigener Philosophie auch in der Wirtschaft den Ton angeben, die Prämissen
formulieren und darf sich nicht zum Handlanger kurzsichtiger ökonomischer
Interessen degradieren lassen. Das gilt für die Ebene der Europäischen Union
und ihrer Institutionen ebenso wie für die einzelnen Mitgliedländer.
Europäische Solidarität in
der Flüchtlingsfrage kann man unter den heutigen systemischen Bedingungen in
der EU angesichts der gravierenden Ungleichgewichte und Widersprüche nicht
erwarten. Deutschland als Exportweltmeister hat im ökonomischen Wettbewerb
seine europäischen Partner an die Wand gespielt, an den Krisen der letzten
Jahre auf Kosten der anderen gewonnen, mit seinen Rüstungsexporten gut verdient
und sich auch für die Flüchtlingsströme mitverantwortlich gemacht. Zum
bevorzugten Ziel der Flüchtenden ist Deutschland durch deutsche
Wirtschaftspolitik geworden.
Daraus folgt, wie ich auch
der Bundeskanzlerin schrieb, als Konsequenz: Die europäische Solidarität kann
nur mit ökonomischen Mitteln erreicht werden, die es politisch im Rahmen der EU
zu gestalten gilt. Und der Schlüssel dazu liegt bei der Europäischen
Zentralbank. Doch bedarf es eines neuen Verständnisses von der Rolle einer
Notenbank im ökonomischen System einer Gesellschaft, wie es sich seit der
Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch die USA im Jahre 1971
herausgebildet hat. Mit der damaligen Notmaßnahme von US-Präsident R. Nixon,
der Abkopplung der Währung vom Goldstandard, wurden das Geld- und Finanzsystem
revolutioniert und mit ihm die Gesellschaft in ihren ökonomischen Grundlagen
umgestaltet. Ich habe dies in Veröffentlichungen ausführlich dargestellt.
Auch wenn sich damals wohl
niemand über die grundlegende politökonomische Bedeutung des amerikanischen Präsidentenerlasses
im Klaren war und man Geld immer noch als Reichtum betrachtete statt als
Arbeitsquittung und damit Anspruchsbescheinigung beziehungsweise Beleg für
Teilhabe am sachlichen Reichtum der Gesellschaft, kam doch sehr schnell die
Erkenntnis, dass das Geld- und Finanzsystem seine Grenzen verloren hatte. Und
gewiss nicht zufällig waren es zuerst amerikanische Banker, die mit viel
Erfindergeist die offenen Grenzen des Geldes ganz pragmatisch für unbegrenzte
Spekulationsgeschäfte zu nutzen verstanden. Ökonomischer Sinn und
wirtschaftliche Vernunft spielen bei diesen Geschäften keine Rolle mehr. Warum?
Weil Geld immer noch für das gehalten wird, was es vor hundert Jahren einmal
war, und weil ein neues Denken nicht auf dem Markt entsteht, weder auf dem
Warenmarkt noch auf dem sogenannten Geld- und Finanzmarkt!
In dieser Situation ist eigentlich
die Politik zum Handeln gefordert. Sie hat dem ökonomischen System, vor allem
was Geld und Finanzen betrifft, gesetzlich Grenzen zu setzen, die Stabilität
und Sicherheit gewährleisten. Dabei kommt es darauf an, Wirtschaftsentwicklung
als einheitliches, komplexes Problem sachlich-struktureller und
finanzieller Entscheidungen zu verstehen und zu organisieren. Das heißt,
Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen als unmittelbare Einheit betrachtet,
organisiert und betrieben werden. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem
Zusammenhang, was Europa betrifft, eben der Europäischen Zentralbank zu. Deren
Status und Statut gilt es im Interesse einer harmonischen Entwicklung im System
der Europäischen Union den Erfordernissen anzupassen. Die EZB muss in die Lage
versetzt werden, mit ihrer Geldpolitik Wirtschaftspolitik zu betreiben. Sie
müsste direkt - möglichst über einen eigenen Apparat von Geschäftsstellen - zweckgebundene, zinslose Kredite für große
europäische Projekte und Investitionsvorhaben zur Verfügung stellen, um die
eigentlichen Ursachen der gravierenden ökonomischen, sozialen und
Haushaltsprobleme Europas zu lösen. Solche Vorschläge wurden auch schon von
anderen öffentlich unterbreitet. Doch das entscheidende Problem besteht in der
Notwendigkeit, das Statut der Europäischen Zentralbank zu verändern, diese
Notwendigkeit anzuerkennen und durchzusetzen. Leider hat sich gerade
Deutschland in der Vergangenheit solch neuem Denken vehement entgegen gestellt.
Doch nun wäre es dringend an der Zeit, diesen Kurs zu ändern, damit die
Staatshaushalte saniert, die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung
Europas gestoppt, die soziale und politische Spaltung Europas abgebaut und auf
europäischer Ebene die Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziert werden
können.
Herr Draghi, Politik und
Wirtschaftsverbände in der EU sind offensichtlich nicht in der Lage oder nicht
gewillt, die notwendigen Veränderungen im System der EU herbeizuführen. US-Präsident
Nixon hatte 1971 den Mut, den (internationalen) Vertrag von Bretton Woods
kurzerhand zu brechen, um den Abfluss von rund 8000 t Gold aus den USA zu
stoppen. Für die wirtschaftswissenschaftlichen Eliten der Welt war so etwas
undenkbar gewesen. Dennoch war es eine richtige Entscheidung und historisch
bedeutsame Tat, weil sie den Schlusspunkt einer schleichenden, hundertjährigen
Evolution des Weltfinanzsystems setzte und einen qualitativen Sprung, eine
Revolution bedeutete. Sie, Herr Präsident, hatten den Mut, das Statut der
Europäischen Zentralbank zu ignorieren, als Sie erklärten, jede Menge von
Staatsanleihen aufkaufen zu wollen, die notwendig wäre, um den Euro zu retten.
Wenn es der europäischen Politik nicht gelingt, eine Statutenänderung der EZB
herbeizuführen, muss die Führung der Europäischen Zentralbank zur Rettung der
Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung nun auch bereit sein,
eigenmächtig das Finanzsystem der EU schrittweise umzugestalten, damit sie die
solidarische Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziell erzwingen und
absichern und die ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte in Europa
ausgleichen kann.
Bei den Brüsseler
Verhandlungen zur Lösung der griechischen Schuldenkrise im Frühling 2015 schlug
die Regierung Griechenlands ein
Minimalprogramm vor, das nach Aussage von Y. Varoufakis keinerlei Veränderungen
an den bestehenden europäischen Verträgen verlangt, doch die Architektur der
Eurozone grundlegend umbauen würde. Es ist ein Programm mit realistischem
Weitblick, es könnte die Eurozone zukunftsfähig machen und würde auf einer
zutreffenden Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Situation Europas basieren. Auch mit deutschem Votum wurde dieses
Minimalprogramm abgelehnt. Angesichts der inzwischen eingetretenen europäischen
Dramatik sollte verantwortungsvolles politisches Denken und Handeln nun auch
darin bestehen, dass man sich auf die griechischen Vorschläge rückbesinnt, um
die notwendige Weiterentwicklung des Projekts Europa wenigstens mit einem
ersten Schritt einzuleiten.
Herr
Präsident, ich wünsche Ihnen für das neue Jahr gute Gesundheit und die Kraft,
Ihrer großen Verantwortung für das Schicksal Europas gerecht zu werden, und
verbleibe
Hochachtungsvoll
Heerke Hummel
Antwort der Generaldirektion Kommunikation bei der EZB
vom 22. Januar 2016
“Sehr geehrter Herr Hummel,
wir betsätigen hiermit den Eingang Ihres Schreibens vom 31. Dezember 2015, und
dass wir Ihre Ausführungen zur Kenntnis genommen haben. Die Europäische
Zentralbank kommentiert allerdings grundsätzlich keine Medienartikel sowie
persönliche Meinungen. …
Die Preisstabilität
mittelfristig zu gewährleisten bleibt nach wie vor das oberste Ziel der EZB,
wie sie das in der Vergangenheit nachweislich getan hat.
Natürlich ist auch die EZB
und unser Präsident, Herr Mario Draghi von der menschlichen Tragödie der
Flüchtlinge, die nach Europa kommen, betrübt. Wie von Präsident Draghi in den
Pressekonferenzen am 3. September und 22. Oktober 2015 erwähnt, ist dies eine
Aufgabe für die in Europa gewählten Staats- und Regierungschefs.
Mit freundlichen Grüßen
Valérie Saintot
Abteilungsleiterin“
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