Von
Heerke Hummel
(Erschienen in; „Das Blättchen“, Heft 13/2015 – www.das-blaettchen.de)
Die Welt ist in Unordnung wie selten vorher,
vielleicht wie nie zuvor. Und der Mensch ist das Problem. Seit hundert Jahren
befindet sich die menschliche Gesellschaft in einer Dauerkrise und auf der
Suche nach Lösungen für die Widersprüche, in die sie verstrickt ist. Dieser
Zeitabschnitt wurde einst von den Ideologen des Ostens optimistisch als Epoche
des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus bezeichnet. Doch vor einem
Vierteljahrhundert ging dieser Optimismus vieler Millionen ganz plötzlich
verloren. Waren es Illusionen gewesen? Mit den Reformen des Ostens – allgemein
als Untergang des Realsozialismus betrachtet – war die Welt ohne das
Freund-Feind-Bild orientierungslos geworden, und Pessimismus überzog den
Erdball angesichts nicht nur atomarer Gefahren und gesellschaftlicher
Katastrophen, sondern auch und vor allem eines drohenden ökologischen Desasters
unseres Planeten. Und nur allmählich wird die theoretische Schockstarre
überwunden, entwickelt sich wieder analytisches Nachdenken über die Situation,
in der sich die Welt befindet, und über Wege zur Wiederherstellung von
Gleichgewichten in der Gesellschaft, in ihrer Ökonomie sowie zwischen Mensch
und Natur ganz allgemein. Jüngstes Beispiel dafür ist ein Buch von Raul Zelik
und Elmar Altvater. Mehrere Wochen führten die beiden einen Dialog „über Mythen
des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft“, der bereits 2009
veröffentlicht wurde. Nun, 2015, hat man ihn aktualisiert und, durch einen
Abschnitt ergänzt beziehungsweise abgerundet, unter dem Titel „Vermessung der
Utopie“ erneut als Taschenbuch herausgegeben.[i]
Den Autoren geht es darum, Wege zu finden hin zu
einer emanzipierten Gesellschaft. Und sie meinen, die gescheiterten
Emanzipationsversuche in der Geschichte der Menschheit hätten gezeigt, wie es
nicht geht. Nun werde eine Reflexion über utopische Entwürfe gebraucht, es
müsse beantwortet werden können, inwieweit diese Entwürfe einigermaßen
realistischen sind. Ob sie tauglich sind, sei daran zu messen, „ob sie den
Menschen ein gutes Leben ermöglichen – in ökologischer, sozialer, politischer
Hinsicht. Ob sie ermöglichen, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu
befriedigen, die Natur zu bewahren – aber auch, ob sie zu einer
herrschaftsfreien Welt führen, in der die Menschen ihr Leben, auch ihr
Arbeitsleben, selbst gestalten können und nicht nur Untertanen sind.“ Eine so
formulierte Aufgabe gleicht dem Ei des Kolumbus. Vermochten die Autoren sie zu
lösen?
In einzelnen Abschnitten ihres Buches äußern sich Zelik
und Altvater zunächst zum Begriff „Ökonomie“, erörtern dann die Krise(n) und
ihr Management, setzen sich mit dem gescheiterten
Sozialismus auseinander und betrachten die kommende Gesellschaft, um
schließlich die Transformation und ihre Subjekte zu behandeln. Der Leser erhält
eine Menge Anregungen zum Mitdenken und Nachdenken, sicher auch zum Widerspruch.
Im ersten Themenblock besprechen die Autoren den
Wandel im gesellschaftlichen Verständnis von der Zielstellung ökonomischen
Denkens und Handelns. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass es heute darum
geht, die Ziele und Inhalte des Wirtschaftens neu zu bestimmen. Dem ist
unbedingt zuzustimmen! Aber muss das auch bedeuten, „sich von Zwängen – wie dem
Zwang zum steten Wachstum, zur ewigen Akkumulation – zu befreien“? Wird die
Menschheit je frei sein können von objektiven Erfordernissen, also ökonomischen
Grenzen und Zwängen? Eine kritische Bemerkung schon an dieser Stelle: Das Buch
leidet in diesem Abschnitt an theoretischer Tiefe und Schärfe; auch was
Feststellungen zum Markt und zur Marktwirtschaft betrifft. Und wenn dort von
den realsozialistischen Gesellschaften die Rede ist, wird leider ganz utopisch
vorausgesetzt, Walter Ulbricht mit seinem Zentralkomitee und andere
kommunistische Führungen hätten sich den objektiven ökonomischen und
politischen Zwängen des Kalten Krieges entziehen und eine Ökonomie „der reinen
Vernunft“ organisieren können - wenn ihnen diese denn gegeben gewesen wäre.
Zwar kann sich ein Volk eine neue Regierung suchen,
aber eine Regierung kein anderes Volk, wie es Berthold Brecht nach dem 17. Juni
1953 ironisch empfahl. Und der heutige Irrsinn des Weltfinanzmarktes ist der
Irrsinn der wirtschaftlich fortgeschrittensten Völker, denen die übrigen
hinterher eifern (müssen?). Behandelt wird dieser Irrsinn im Abschnitt „Die
Krise(n) und ihr Management. Und da wird – man möchte es kaum glauben – beispielsweise
die „materielle Interessiertheit“ von Wirtschaftsleitern in der DDR
gleichgesetzt mit dem Anreizsystem der Managergehälter. Viel eher wäre doch an
dieser Stelle schon zu fragen gewesen, was das heutige Wirtschaftssystem
überhaupt noch mit dem ursprünglichen Kapitalismus des vorigen Jahrhunderts zu
tun hat und worin die Unterschiede bestehen, was da noch privat ist am
Eigentum, was zu tun ist, um aus der Misere heraus zu kommen. Die Autoren
setzen sich zwar ausführlich mit der krisenhaften weltwirtschaftlichen
Entwicklung seit den 1970er Jahren auseinander und kommen zu dem Schluss, das
„fordistische und keynesianische Wachstumsmodell“ sei damals „an systemische
Grenzen“ geraten. Doch die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch
US-Präsident Nixon erwähnen sie nicht einmal. Dabei hat diese das ökonomische
System der westlichen Welt geradezu revolutioniert, weiter vergesellschaftet, indem
mit der Aufhebung der Golddeckung des US-Dollars sich das Geld in ein
allgemeines Arbeitszertifikat verwandelte, alle Bremsen und Grenzen des
Finanzsektors verschwanden und dank fehlender der neuen Situation
entsprechender gesetzlicher Regeln der allgemeinen Spekulation Tür und Tor
geöffnet wurden. Raul Zelik stellt lediglich fest, in der damaligen
Krisensituation „eröffnete der finanzgetriebene, neoliberal regulierte
Kapitalismus ein neues Wachstumsfeld“. Dass es sich dabei gar nicht mehr um
wirkliches Wirtschaftswachstum handelt oder handeln muss, geht völlig unter. Denn
nach der klassischen Arbeitswerttheorie von Karl Marx sinkt mit steigender
Produktivität der Arbeitsaufwand des Produkts und damit sein Wert und Preis, so
dass – bei sonst gleichen Bedingungen – Wert- und Preissumme der Warenwelt sowie
die für ihre Zirkulation notwendige Geldmenge konstant bleiben. Heute dagegen
charakterisieren eher steigende Preise und Geldmengen eine veränderte Art und
Weise des Wirtschaftens und von ökonomischen Beziehungen in der Gesellschaft. Dieser
Wandel ist bis heute von der gelehrten Wirtschaftswissenschaft nicht
theoretisch verarbeitet worden. Und so wird in Politik, Finanzsektor und
Realwirtschaft herkömmlich, in veralteten Modellvorstellungen gedacht und nach
überholten Regeln gehandelt.
Zelik und Altvater wollen nicht „auf das Ende des
Kapitalismus“ warten, nicht „den Kapitalismus heilen“. Ihre Hoffnungen richten
sich stark auf radikaldemokratische Bewegungen wie in Lateinamerika. Das ist
fragwürdig. Denn das unschöne Gesicht des Sozialismus im 20. Jahrhundert
resultierte doch gerade daher, dass mit dem großen Experiment in einem der
rückständigsten Länder der Welt begonnen wurde, wobei die Erwartung sich nicht
erfüllte, Westeuropa werde dem Beispiel Russlands folgen.
Die „kommende Gesellschaft“ erwartet Altvater als „eine
regulierte Utopie“, und er glaubt, es gehe auch nicht anders, „als dass wir mit
Regeln operieren. Einfach deshalb, weil die Natur mittlerweile eine Grenze
darstellt.“ Man möchte hinzufügen: Und weil Märkte – vor allem der Finanzmarkt
– und die Raffgier keine Grenzen kennen. So gesehen kommt es heute in der
Hauptsache darauf an, die Regeln des Wirtschaftens, und solche gibt es ja
bereits seit langem, zu ändern; zuerst und zumindest in Europa. In dieser Frage
sind die Autoren allerdings sehr zögerlich. Zelik hält einen „globalen
Ordnungsrahmen“ zum Beispiel auch für erforderlich, wenn es um Arbeitsrechte
geht. Warum, so ist zu fragen, sollte sich sein „Gegenprojekt“ zur heutigen
Wirtschaftsweise nicht in einem europäischen Alleingang verwirklichen lassen? –
Wenn es denn in der Europäischen Union den politischen Willen dazu gäbe? Denn
seiner Meinung nach gilt es, „die Märkte zu begrenzen und zurückzudrängen, eine
unmittelbare Demokratisierung von Gesellschaft und Arbeit einzuleiten,
gesellschaftliche Kontrolle über Produktion, Verteilung, Konsum, Finanzmärkte
zurückzuerlangen, eine Verschiebung hin zu gesellschaftlichem Eigentum in Gang
zu setzen, eine ökologische Umgestaltung der Ökonomie zu erzwingen.“ Warum
sollte das nicht schon in Bälde möglich sein, wenn die Europäer mit Brüssel an
der Spitze bereit wären, die entsprechenden Konsequenzen in Kauf zu nehmen? Vor
allem bedarf es dazu der Macht, der „Gegen-Macht“. Zelik sagt es so selbst. Wünschenswert
wäre nun gewesen, dass die Autoren ihre Überlegungen zur Rolle der Macht und
des Staates auf die konkreten Verhältnisse in Europa bezogen hätten. Sie
schreiben zwar, „dass sich selbst organisierende Prozesse mit bestimmten Regeln
oder Rahmenbedingungen bessere Ergebnisse hervorbringen, als es eine Führung
vermag.“ Doch sie übersehen oder ignorieren dabei zugleich, dass wir es heute
bereits mit solchen selbst organisierenden Prozessen zu tun haben, deren veraltete
Regeln „nur“ noch zu verändern sind. Der nun ein Jahrhundert währende Kampf
zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ hat die Gesellschaft, vor allem wohl
ihre Theoretiker, blind gemacht für die konkreten Veränderungen, die sich in der
realen Welt vollzogen haben, und unfähig, diese theoretisch zu verallgemeinern
und zu verstehen.
Die „kommende Gesellschaft“ wird es trotzdem geben,
mit oder ohne Utopien, Hoffnungen und Illusionen. Die Erfahrungen eines ganzen
Jahrhunderts haben nämlich gezeigt, dass die Menschheit zwar lernfähig ist,
doch kaum dank theoretischer Voraussicht das Richtige tut, sondern meist auf
Grund unerträglicher Verhältnisse nur das unbedingt Notwendige unternimmt - im
Kampf von Interessen und in kleinen Schritten.
[i] Raul
Zelik / Elmar Altvater, Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des
Kapitalismus und die kommende Gesellschaft, Bertz + Fischer GbR, Berlin 2015,
ISBN 978-3-86505-729-7, Taschenbuch, 237 S. 9,90 €
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