Samstag, 22. September 2007

Bürger aller Länder, vereinigt euch!

Der Widerstand gegen die neoliberalen Reaktionen auf die ökonomische Globalisierung wächst. Doch er scheint sich in deren Kritik zu erschöpfen. Die Lösungen, die von den Kritikern für die ökonomischen Herausforderungen der Gegenwart angeboten werden, besitzen, weil sie sich an der unmittelbaren Vergangenheit, also an der „sozialen Marktwirtschaft“ orientieren, für die allgemeine Öffentlichkeit bisher weniger Überzeugungskraft als die des Neoliberalismus. Letzterer erscheint mit seiner marktorientierten Privatisierungswut nur deshalb moderner und überzeugender, weil er auf eine noch weiter zurück liegende Vergangenheit orientiert, die schon nicht mehr zum Erfahrungsschatz der meisten Akteure und Betroffenen der Gegenwart gehört und daher scheinbar Neuheitswert besitzt. Logik können auf der Grundlage unseres bisherigen ökonomischen Denkens, also im Rahmen unserer Vorstellung der Wirtschaft als einen durch Geld vermittelten Austausch von privat hergestellten Gütern, beide wirtschaftspolitischen Ansätze für sich beanspruchen.


„Der Staat muss, um die Konjunktur anzukurbeln, eingreifen und sich erforderlichenfalls verschulden“ ist genauso plausibel wie „der Staat darf sich nicht weiter verschulden, weil schon jetzt die Zinszahlungen mehr als ein Viertel des Staatshaushaltes verschlingen“. Die zwei gegensätzlichen, aber gleichermaßen logischen Schlussfolgerungen deuten darauf hin, dass wir es mit einem Widerspruch zu tun haben, der nur mit einem neuen Denkansatz, nur mit einem neuen Verständnis unserer (gegebenen!) ökonomischen Wirklichkeit zu überwinden ist.

Eine allgemeine Tendenz …
Fast das ganze 20. Jahrhundert war unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sich die Wechselwirkung zwischen Staat und Wirtschaft immer mehr intensivierte, um in der „sozialen Marktwirtschaft“ der Alt-Bundesrepublik einen Höhepunkt zu erreichen. Im Hintergrund dieser Entwicklung vollzog sich ein bedeutender ökonomischer Wandel im Geld- und Finanzsystem der Gesellschaft. Das Geld, das früher einmal selbst eine Ware war, nämlich eine bestimmte Menge (nützlichen!) Edelmetalls, wurde ersetzt durch Papier, welches einen Anspruch auf dieses Edelmetall formulierte. Dieser Anspruch auf Edelmetall, also auf einen wirklichen Wertgegenstand, wurde nicht (mehr) durch denjenigen garantiert, der mit diesem Papier(geld) eine reale Ware eintauschte, kaufte, sondern vom Staat, dessen Notenbank dieses Geld herausgegeben hatte. Damit hatte der Staat eine ganz neue Verantwortung für die Wirtschaft, für die ökonomischen Abläufe der gegebenen Gesellschaft (Nation) übernommen. Vordergründig bestand sie lediglich in der Verpflichtung, dem Besitzer dieses Papiergeldes auf Wunsch dafür die entsprechende Menge Edelmetall auszuhändigen. Hintergründig erforderte sie aber, eine entsprechend verantwortungsvolle Geld- und Finanzpolitik zu betreiben. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren es schließlich, die dieser Verantwortung bis 1971 immer weniger gerecht wurden, sich gegenüber der ganzen Welt so hoch verschuldeten, dass ihre Goldreserven die im In- und Ausland kursierenden Dollar-Noten nur zu einem geringen Bruchteil deckten. Die Folge war: Das allgemeine Vertrauen in diese Leit-Währung der westlichen Hemisphäre schwand, und in großem Maßstab wurden Dollarguthaben bei der US-Notenbank in Gold eingetauscht. Eine internationale Finanzkrise war entstanden, aus der sich die USA nur durch einen Befreiungsschlag retten konnten: Präsident Richard Nixon verkündete am 15. August 1971 in seiner sonntäglichen Fernsehrede auf Empfehlung seiner Berater, der US-Dollar, an den laut Vertrag von Bretton Woods die meisten anderen Währungen gekoppelt waren, würde ab sofort nicht mehr gegen Gold eingetauscht werden können.

Diese bis dahin für unmöglich gehaltene Entscheidung bedeutete eine Revolutionierung der ökonomischen Verhältnisse in der ganzen westlichen Welt. Denn die USA hatten sich nicht nur ihrer durch inflationistische Geldpolitik entstandenen bzw. ermöglichten Schulden entledigt, sondern das ganze westliche Weltfinanzsystem hatte seine Basis verloren. Der Staat als solcher war in eine ganz neue ökonomische Verantwortung gestellt, die sich vordergründig nicht mehr darin erschöpfte, durch eine entsprechende Geldpolitik sicherzustellen, dass Papiergeld gegen Edelmetall eingetauscht werden kann, sondern die nun von ihm erforderte, auch die ökonomische Steuerungsfunktion der Geldware, des Edelmetalls, zu übernehmen und für reibungslose ökonomische Kreisläufe zu sorgen.

Allerdings war man sich dieses Problems wohl nur sehr allgemein und auch nur vor der amerikanischen Präsidentenentscheidung bewusst, weshalb man bis dahin einen solchen Entschluss auch für unmöglich gehalten hatte. Umso überraschter mag man, als sich binnen weniger Tage und Wochen die Wellen der Empörung und Aufregung geglättet hatten, gewesen sein, dass alles wie bis dato zu funktionieren schien. Denn das Vertrauen in die US-Währung kehrte zurück, als ob nichts geschehen wäre. Ja mehr noch! Nun, da endlich klare Verhältnisse geschaffen waren, die USA sich kurz und bündig aller Währungsverpflichtungen entledigt hatten, konnte die Dollar-Notenpresse umso sorgenfreier und unbedenklicher in Gang gesetzt werden, ohne Rücksichtnahme auf irgendwelche Goldbestände. Ob und wie viel Wert (Kaufkraft) der Dollar besaß, war nicht mehr eine an den amerikanischen Staat gerichtete Frage, also dessen Angelegenheit, sondern ein Problem derjenigen, die mit diesem Papier handelten; und das war fast die ganze Welt, jedenfalls in beträchtlichem Maße. Für alle Besitzer von Dollar-Scheinen und –Guthaben gab es zunächst einmal kein Zurück, keine Alternative. Sie mussten mit diesem nun an sich völlig wertlosen und vagen Papier auf Gedeih und Verderb weiter handeln – und spekulieren. Denn je mehr Dollar in Umlauf kamen, umso mehr blähten sie das internationale Finanzsystem mit seiner ungeheuren Vielfalt von gehandelten Wertpapieren aller Art auf, koppelten es von der Realwirtschaft ab und öffneten so der allgemeinen Spekulation Tür und Tor. Die Folge: Das große und schnelle Geld wird heute nicht mehr durch produktive Arbeit, sondern durch spekulative Scheinwertvermehrung verdient – auf Kosten der Realwirtschaft und der sozialen Sicherheit nicht mehr nur von Millionen, sondern von Milliarden Menschen.

… abbrechen?
Aus dieser veränderten ökonomischen Wirklichkeit kreierte die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft eine neue Theorie, den sogenannten Neoliberalismus. Dessen Grundgedanke in etwa ist: Wenn sich das Finanzsystem globalisiert, seine Schein-Werte (in des Wortes mehrfacher Bedeutung) mittels Computer und Internet nicht in Windeseile, sondern mit Lichtgeschwindigkeit um den Erdball jagt, um sie aus sich selbst heraus (spekulativ) wie Kaninchen zu vermehren, dann müssten die Sozialsysteme, die ja einen Teilbereich des allgemeinen Finanzsystems darstellen bzw. in dieses einbezogen sind, der starren staatlichen Verwaltung entzogen und durch Privatisierung beweglich gemacht werden. Denn in staatlicher Regie sei das alles nicht mehr finanzierbar.

Der politischen Linken blieb es in der komplizierten Situation einer globalisierten Ökonomie vorbehalten, sich – aus einem wohlmeinenden sozialen Engagement heraus – auf John Maynard Keynes zu besinnen, der die Wirtschaft mit staatlich finanzierten Konjunkturprogrammen flott halten wollte, was in der Alt-BRD bis in die 70er Jahre hinein auch ziemlich gut funktioniert hatte, aber eben auf Kosten einer schleichenden Inflation und Staatsverschuldung. Wirtschaftstheoretisch blieben sie bei dem Engländer stehen. Kritisch Denkende hatten schon frühzeitig gewarnt: „Wenn wir nicht über Keynes hinauskommen, werden wir hinter Keynes zurückgeprügelt“ (Erhard Eppler Ende der siebziger Jahre). Aber auch Eppler weiß bis heute nicht mehr festzustellen als: „Was dieses Land braucht, ist ein politischer Diskurs, der die behäbige Hegemonie marktradikaler Ideologen ablöst. Am ehesten lässt er sich einleiten mit der Frage, was ein Staat zu leisten hat, was man ihm abnehmen darf und was nicht“ (geäußert in einer Besprechung von Albrecht Müllers Buch „Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungsschicht uns zugrunde richtet“ – Süddeutsche Zeitung vom 19.06. 06). Immerhin hat er damit aber das eigentliche Problem benannt – die Rolle des Staates in der heutigen Wirtschaft, die es neu zu durchdenken gilt.

Um die ökonomische Funktion des Staates in der Gegenwart und Zukunft zu begründen, müssen wir uns zunächst noch einmal die Veränderung im Wesen des Geldes bewusst machen, die der amerikanische Präsidentenbeschluss 1971 herbeiführte. Bis zu diesem Zeitpunkt vertraten je 35 US-Dollar eine Feinunze Gold. Wer damit einkaufte, tauschte sein (bei der Notenbank liegendes und verbleibendes) Gold in Waren ein, deren Herstellung ebensoviel Arbeit gekostet hatte wie die Gewinnung dieser Goldmenge. Diese Goldmenge drückte den Wert, den zur Produktion gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand der betreffenden Waren aus. Wie viel Arbeit – in Zeiteinheiten, dem natürlichen Maß der Arbeit, gerechnet – das war, wurde und brauchte nicht ermittelt zu werden, denn es handelte sich um einen Tausch privater Besitzer von Waren, von Arbeitsprodukten. Jeder gab bzw. nahm als wirkliches Äquivalent ein Produkt, von dem er aus Erfahrung wusste, wie viel Wert es besaß und – im Falle des Goldes als dem relativ stabilen Wertmesser – auch künftig besitzen würde. Nun aber, nach 1971, erhielt der Verkäufer einer Ware einen Schein, der keine bestimmte Ware, kein bestimmtes Produkt (Goldmenge) mehr vertrat, sondern nur noch ganz allgemein einen „Anspruch an die Gesellschaft“ auf Lieferung von Produkten formulierte – ohne jegliche Qualifizierung und Quantifizierung, ohne jegliche Lieferverpflichtung irgendjemandes. Früher besaß der Verkäufer einer Ware mit dem dafür eingenommenen Geld einen tatsächlichen Wertgegenstand, von dem er wusste, dass er auch künftig seine Werthaltigkeit behielte und daher bei anderen Privatpersonen gegen deren Produkte eintauschbar bliebe. Mit dem neuen Geld besitzt er zwar ein „gesetzliches Zahlungsmittel“, doch wie viel und bei wem er damit bezahlen und kaufen kann, ist nirgends garantiert, wie zahlreiche Inflationen, Geldumtausche und Währungsreformen der Vergangenheit (auch der jüngste Dollar-Verfall) gezeigt haben.

… oder weiterführen?
Der Staat als Herausgeber der Währung ist also auf ganz neue Weise als Währungshüter und Wirtschaftsorganisator gefordert. Sein Geld hat sich aus einem verbindlichen Anspruch auf eine bestimmte Menge Gold seiner Notenbank in einen ganz unbestimmten und unverbindlichen Anspruch auf Waren und Leistungen verwandelt. Für deren Erzeugung und Bereitstellung ist er, der Staat, als Herausgeber des Geldes verantwortlich. Zugleich ist das Geld für denjenigen, der es (für sein Produkt oder für seine Leistung) erhält, eine Quittung, Bestätigung dafür, dass er diese Leistung als seinen Beitrag zum Reichtum der Gesellschaft erbracht hat. Diese Quittung berechtigt ihn, das gleiche Quantum Reichtum, geronnene Arbeit, von anderen, letztlich also allgemein von „der Gesellschaft“ zu beziehen.

Wir sehen, dass durch die Veränderungen im Geld- und Währungssystem Produktion und Austausch von Waren ihren privaten Charakter weitgehend verloren haben und der Staat als Vollstrecker eines gesellschaftlichen Gesamtwillens eine ganz neue wirtschaftsorganisatorische Verantwortung erlangt hat. Dieser muss er durchaus nicht durch eine schwerfällige, administrative Planungsbürokratie, etwa nach „realsozialistischem“ Vorbild, gerecht werden. Vielmehr dürfte es genügen, dass er sich darauf konzentriert, das Geld- und Finanzsystem so unter seine Kontrolle und Regie zu nehmen, dass es seiner Funktion als Mess- und Steuerungsinstrument realwirtschaftlicher Prozesse gerecht wird.

So betrachtet ist die auf eine frühe Vergangenheit gerichtete neoliberale Forderung nach einem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft völlig unlogisch und geradezu absurd. Aber auch die Rückbesinnung auf eine (vergleichsweise immerhin bessere) keynesianische Konjunkturpolitik des Staates würde den heutigen Erfordernissen nicht mehr genügen. Erforderlich ist ein wirklich zukunftsorientiertes, grundlegendes ökonomisches Umdenken, welches die vor sich gegangene Vergesellschaftung in den Grundbeziehungen der Wirtschaft auch theoretisch verarbeitet und den formell noch „privaten“ Unternehmer als einen Manager der Gesellschaft mit ganz bestimmten Befugnissen, Rechten und Pflichten begreift. Denn darauf hat sich seine Stellung in der Gesellschaft, auch dank eines riesigen Berges von Gesetzen und Vorschriften, die sich bei einer klugen Gestaltung und Kontrolle des Finanzsystems durch den Staat sicherlich einschränken und vereinfachen ließen, längst reduziert. Die Wirtschaft selbst erschiene in einem solchen Denksystem nicht mehr als ein privater Verwertungsprozess von Kapital nach der von Karl Marx kreierten Formel
G – W - G’ (Geld – Ware - mehr Geld), so sehr sich das im Bewusstsein der Akteure subjektiv auch noch so darstellen mag, sondern als der objektive, stufenweise Aneignungsprozess der Natur durch die Gesellschaft, in welchem Arbeit verausgabt wird, um die Natur zum Zwecke ihrer Konsumtion zu verändern, worüber mit dem Finanzsystem gesellschaftlich Buch geführt wird.

Einem solchen Verständnis von der Wirtschaft in ihrer heutigen Verfassung stehen vor allem zwei Umstände entgegen: Erstens die Macht der Gewohnheit, das geistige Befangensein in der überkommenen Vorstellungswelt vom „Kapitalismus“ mit seien ökonomischen Begriffen und Kategorien; zweitens das Vorauseilen der ökonomischen Realität (als eine globalisierte Wirtschaft) gegenüber der politischen Wirklichkeit (der politischen Organisation der Gesellschaft in nationalen Staats- und Machtsystemen). Die Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kann daher nicht – wie es die gegenwärtige Tendenz zu sein scheint - darin bestehen, einen Wettbewerb der einem globalisierten Finanzsystem untergeordneten Nationen zu veranstalten, sondern nur darin, die Völker in einem übernationalen Staatswesen bzw. Machtsystem zu organisieren, welches in der Lage ist, die globalisierte Wirtschaft durch ein ihrer Kontrolle und Regelung unterworfenes Finanzsystem zu steuern und so ökonomische Sicherheit für alle zu gewährleisten. Eine neue Aufklärung ist also erforderlich, deren Losung (in Anlehnung an Marx und Engels) heute lauten müsste: Bürger aller Länder vereinigt euch!

(2005 veröffentlichte der Autor sein Buch „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“ – Projekte-Verlag, Halle, ISBN 3-86634-048-6)

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