Heerke Hummel
H. Hummel, Am Plessower See 154, 14542 Werder/Havel; Tel.:
+49/3327/42157; E-Mail: heerke.hummel@web.de
Präsident
Europäische Kommission
Herr J.-C. Juncker
Rue de la Loi / Wetstraat 200
B-1049 Brüssel
Belgien
17. Januar 2016
Betreff: Europas Zukunft
Sehr geehrter Herr Präsident!
In Ihrer viel beachteten Rede
am 15. Januar warnten Sie vor einer massiven Glaubwürdigkeitskrise, wenn die
EU-Staaten nicht dringend gemeinsam gefasste Beschlüsse insbesondere zur
Bewältigung der Flüchtlingskrise umsetzen. Von einem drohenden Ende des
europäischen Binnenmarktes sprachen Sie sogar. Ihre Einschätzung zur Lage
Europas teile ich vollkommen. Doch leider sehe ich kein Licht am Ende des
Tunnels, denn Ihre Appelle dürften an dem desolaten Zustand nichts ändern.
Europa braucht dringend Taten seiner Führung, der Europäischen Kommission und
ihres Präsidenten.
Die Europäische Union droht
an den divergierenden Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu zerbrechen. Als
studierter Volkswirt und deutscher Staatsbürger sehe ich sehr wohl die große
Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland in dieser Frage. Sie resultiert
aus der Rolle Deutschlands als europäische Großmacht in ökonomischer und
politischer Hinsicht. Dennoch wende ich mich an Sie als Präsident der EU-Kommission,
Herr Juncker, weil ich der Meinung bin, dass das Schiff Europa nur von der
Kommandobrücke Europas her aus dem Schlingern in ruhiges Fahrwasser und auf
einen stabilen Kurs zu steuern ist. Die entscheidenden Ansatzpunkte für die
Lösung auch des Flüchtlingsproblems sehe ich auf ökonomischem Gebiet. Die
Politik muss dabei mit eigener Philosophie den Ton angeben, die Prämissen
formulieren und darf sich nicht zum Handlanger kurzsichtiger ökonomischer
Interessen degradieren lassen. Das gilt für die Ebene der Europäischen Union
und ihrer Institutionen ebenso wie für die einzelnen Mitgliedländer.
Europäische Solidarität in
der Flüchtlingsfrage kann man unter den heutigen systemischen Bedingungen in
der EU angesichts der gravierenden Ungleichgewichte und Widersprüche nicht
erwarten. Deutschland als Exportweltmeister hat im ökonomischen Wettbewerb
seine europäischen Partner an die Wand gespielt, an den Krisen der letzten
Jahre auf Kosten der anderen gewonnen, mit seinen Rüstungsexporten gut verdient
und sich auch für die Flüchtlingsströme mitverantwortlich gemacht. Zum
bevorzugten Ziel der Flüchtenden ist Deutschland durch deutsche
Wirtschaftspolitik geworden.
Daraus folgt als Konsequenz:
Die europäische Solidarität kann nur mit ökonomischen Mitteln erreicht werden, und
sie gilt es politisch im Rahmen der EU zu gestalten. Der Schlüssel dazu liegt
bei der Europäischen Zentralbank. Doch bedarf es eines neuen Verständnisses von
der Rolle einer Notenbank im ökonomischen System einer Gesellschaft, wie es
sich seit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch die USA im Jahre
1971 herausgebildet hat. Mit der damaligen Notmaßnahme von US-Präsident R.
Nixon, der Abkopplung der Währung vom Goldstandard, wurden das Geld- und
Finanzsystem grundlegend verändert und mit ihm die Gesellschaft in ihren
ökonomischen Grundlagen umgestaltet. Ich habe dies in Veröffentlichungen
ausführlich dargestellt.
Auch wenn sich damals, vor
mehr als vier Jahrzehnten, wohl niemand über die grundlegende politökonomische
Bedeutung des amerikanischen Präsidentenerlasses im Klaren war und man Geld weiterhin
als Reichtum betrachtete statt als Arbeitsquittung und damit
Anspruchsbescheinigung beziehungsweise Beleg für Teilhabe am sachlichen
Reichtum der Gesellschaft, kam doch sehr schnell die Erkenntnis, dass das Geld-
und Finanzsystem seine Grenzen verloren hatte. Und gewiss nicht zufällig waren
es zuerst amerikanische Banker, die mit viel Erfindergeist die offenen Grenzen
des Geldes ganz pragmatisch für unbegrenzte Spekulationsgeschäfte zu nutzen verstanden.
Ökonomischer Sinn und wirtschaftliche Vernunft spielen bei diesen Geschäften
keine Rolle mehr. Und zwar deshalb, weil Geld immer noch für das gehalten wird,
was es vor hundert Jahren einmal war, und weil ein neues Denken nicht auf dem
Markt entsteht, weder auf dem Warenmarkt noch auf dem sogenannten Geld- und
Finanzmarkt!
In dieser Situation ist eigentlich
die Politik zum Handeln gefordert. Sie hat dem ökonomischen System, vor allem
was Geld und Finanzen betrifft, gesetzlich Grenzen zu setzen, die Stabilität
und Sicherheit gewährleisten. Dabei kommt es darauf an, Wirtschaftsentwicklung
als einheitliches, komplexes Problem sachlich-struktureller und
finanzieller Entscheidungen zu verstehen und zu organisieren. Das heißt,
Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen als unmittelbare Einheit betrachtet,
organisiert und betrieben werden. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem
Zusammenhang, was Europa betrifft, eben der Europäischen Zentralbank zu. Deren
Status und Statut gilt es im Interesse einer harmonischen, ausgeglichenen
Entwicklung im System der Europäischen Union den Erfordernissen anzupassen. Die
EZB muss in die Lage versetzt werden, mit ihrer Geldpolitik Wirtschaftspolitik
zu betreiben. Sie müsste direkt - möglichst über einen eigenen Apparat von Geschäftsstellen
- zweckgebundene, zinslose Kredite für
große europäische Projekte und Investitionsvorhaben zur Verfügung stellen, um
die eigentlichen Ursachen der gravierenden ökonomischen, sozialen und
Haushaltsprobleme Europas zu lösen. Solche Vorschläge wurden auch schon von
anderen öffentlich unterbreitet. Doch das entscheidende Problem besteht in der
Notwendigkeit, das Statut der Europäischen Zentralbank zu verändern, diese
Notwendigkeit anzuerkennen und durchzusetzen. Leider hat sich gerade Deutschland
in der Vergangenheit solch neuem Denken vehement entgegen gestellt. Doch nun
wäre es dringend an der Zeit, diesen Kurs zu ändern, damit die Staatshaushalte
saniert, die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung Europas
gestoppt, die soziale und politische Spaltung Europas abgebaut und auf
europäischer Ebene die Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziert werden
können. Dies habe ich bereits auch der deutschen Bundeskanzlerin geschrieben.
Herr Juncker, Politik und
Wirtschaftsverbände in der EU sind offensichtlich nicht in der Lage oder nicht
gewillt, die notwendigen Veränderungen im System der EU herbeizuführen. US-Präsident
Nixon hatte 1971 den Mut, den Vertrag von Bretton Woods kurzerhand zu brechen,
um den Abfluss von rund 8000 t Gold aus den USA zu stoppen. Für die
wirtschaftswissenschaftlichen Eliten der Welt war so etwas undenkbar gewesen. Aber
Nixon tat es dennoch, und es war eine richtige Entscheidung und eine historisch
bedeutsame Tat, weil sie den Schlusspunkt einer schleichenden, hundertjährigen
Evolution des Weltfinanzsystems setzte, einen qualitativen Sprung bedeutete und
zu einer Veränderung der Gesellschaft in ihren ökonomischen Basisbeziehungen
führte. Herr Draghi hatte als EZB-Präsident den Mut, das Statut der
Europäischen Zentralbank zu ignorieren, als er erklärte, jede Menge von
Staatsanleihen aufkaufen zu wollen, die notwendig wäre, um den Euro zu retten.
Wenn es nun der europäischen Politik nicht gelingt, eine Statutenänderung der
EZB herbeizuführen, müsste die Führung der Europäischen Zentralbank zur Rettung
der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung nun auch bereit sein,
eigenmächtig das Finanzsystem der EU schrittweise umzugestalten, damit sie die
solidarische Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziell stimulieren, vielleicht
auch erzwingen und absichern und die ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte
in Europa ausgleichen kann. Auch dem Präsidenten der EZB gegenüber habe ich
mich kürzlich dahingehend geäußert.
Bei den Brüsseler
Verhandlungen zur Lösung der griechischen Schuldenkrise im Frühling 2015 schlug
die Regierung Griechenlands ein
Minimalprogramm vor, das nach Aussage von Y. Varoufakis keinerlei Veränderungen
an den bestehenden europäischen Verträgen verlangt, doch die Architektur der
Eurozone grundlegend umbauen würde. Es ist ein Programm mit realistischem
Weitblick, es könnte die Eurozone zukunftsfähig machen und würde auf einer
zutreffenden Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Situation Europas basieren. Auch mit deutschem Votum wurde dieses
Minimalprogramm abgelehnt. Angesichts der inzwischen eingetretenen europäischen
Dramatik sollte verantwortungsvolles politisches Denken und Handeln nun auch
darin bestehen, dass man sich auf die griechischen Vorschläge rückbesinnt, um
die notwendige Weiterentwicklung des Projekts Europa wenigstens mit einem
ersten Schritt einzuleiten.
Herr
Präsident, ich wünsche Ihnen für das neue Jahr gute Gesundheit und die Kraft,
Ihrer großen Verantwortung für das Schicksal Europas gerecht zu werden, und
verbleibe
Mit vorzüglicher Hochachtung
Heerke Hummel