Mittwoch, 11. Juli 2012

Flickschusterei oder ein Paar neue Schuhe?


Flickschusterei oder ein Paar neue Schuhe?
Von Heerke Hummel
(Erschienen in: "Das Blättchen", Nr. 14/2012)

Ist die Not nur groß genug, wird auch in Regierungskreisen eine Änderung des Grundgesetzes in Erwägung gezogen. Sogar von einer eventuellen Volksabstimmung ist die Rede. Der Grund diesmal: Die Europäische Union braucht eine zentralisierte Finanzpolitik, um, was das Finanzsystem betrifft, wirklich handlungsfähig zu sein. Und dazu müssen nationale Kompetenzen an die EU abgetreten werden, was in Deutschland eine Änderung des Grundgesetzes erfordere. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat mit seinen dahin gehenden Äußerungen ein Tabu gebrochen und eine fast hektische Diskussion ausgelöst.
Der Euro-Zone steht nach dem griechischen Staatshaushaltsdesaster, dem spanischen und nun auch dem zyprischen Bankendesaster das Wasser bis zum Halse. Und ein Ende des Pegelsteigens ist bisher nicht in Sicht. Kritiker der Euro-Einführung im letzten Jahr des vorigen Jahrhunderts mahnten damals, die notwendigen Rahmenbedingungen einer so gravierenden Aktion seien nicht gegeben gewesen, während in Kreisen der Europrotagonisten wohl gehofft wurde, der Euro werde die politische Integration Europas beschleunigen und notwendige Reformen erzwingen. Nun scheint, wenigstens was den Finanzsektor betrifft, die Zeit bald gekommen zu sein. Die Ökonomie demonstriert – ganz im Marxschen Sinne – ihr Primat gegenüber der Politik.
Dennoch bleibt diese mit ihrem Löcherstopfen, beispielsweise mittels „Rettunsschirme“ und „Rettungsfonds“, in Flickschusterei stecken. Denn es ist bisher eine Politik, die der äußersten praktischen Not gehorcht, anstatt der Erkenntnis, der Einsicht in die Materie, also dem richtigen Sachverstand zu folgen. Wird eine Politik die anstehenden Probleme im Finanzsystem dadurch  besser lösen, dass sie von einer Mehrheit des Volkes, der Wähler beschlossen wird? In einer so komplexen und durch höchste Spezialisierung von Fachwissen geprägten Welt wie der unsrigen würde eine Volksabstimmung, beispielsweise über grundgesetzliche Neuregelungen von Budgetkompetenzen, zu einer Entscheidung des Bauches statt des Kopfes, des Glaubens statt des Wissens, also der Manipulation durch die Medien.  Und die Frage wäre: Welche Interessen werden dabei verfolgt? Stutzig machen sollte doch der Umstand, dass mit einem Mal alle Parteien eine solche Befragung des Volkes favorisieren. Sind es private oder Gruppeninteressen oder die des Gemeinwesens? Was ist oder wäre gut für die Gesamtheit der EU und ihrer Bürger? Nach dem heutigen Stand der Diskussion und der praktischen Politikansätze in Sachen Finanzsystem gibt es wenig Grund für die Zuversicht, die Probleme könnten in Bälde bei der Wurzel gepackt und wirklich gelöst werden. Nach jeder „Rettungsaktion“ während der letzten vier Jahre taten sich neue Löcher auf, und so wird es bleiben, solange nicht neue gesellschaftliche und ökonomische Denkansätze zum Tragen kommen, ein der heutigen Welt entsprechendes  Verständnis vom Wirtschaften und Bewirtschaften unserer Mutter Erde, wenigstens und zunächst im Rahmen Europas. Was soll da eine Volksabstimmung über das Budgetrecht? Es scheint, als wollten sich die Parteien entweder eine Rückversicherung für die Zukunft schaffen, um dem Volk nach gewiss auch künftig nicht ausbleibenden Misserfolgen sagen zu können: Ihr habt es mehrheitlich ja so gewollt. Oder sie hoffen, das Gruppeninteresse ihrer Klientel einer Mehrheit der Wähler als das Gemeinwohl einreden zu können.
Auch ein europäisches Finanzministerium würde die Krise nicht bewältigen, wenn es, um im Bild zu bleiben, nicht neue Schuhe fertigte, also verstünde, dass die Finanzkrise nur die heutige Erscheinungsform einer allgemeinen, kapitalistischen Verteilungskrise in der Gesellschaft ist. Was produziert wird, muss verbraucht werden. Es lässt sich nicht über Jahre und Jahrzehnte aufbewahren. Wer sein Einkommen nicht ausgibt und verbraucht, sondern spart, läuft Gefahr, es zu verlieren. Die Illusion, jeder könne seinen Reichtum durch Verborgen erhalten und sogar durch Zinsnahme vermehren, sollte durch die weltweiten Erfahrungen während der letzten Jahrzehnte doch endgültig geplatzt sein. Griechenland ist da nur die deutlich sichtbare Spitze des Eisbergs „Lehren aus der Wirtschaftsgeschichte“. Die Hauptschuld am Desaster trägt wohl nicht einmal der Schuldner, wenn er nicht um den Kredit gebeten und gebettelt hat. Er hätte zwar wissen müssen, wie schwer es ihm fallen wird, nicht nur das Geliehene zu erstatten, sondern auch noch die Zinslast zu tragen, mit der sich die Gesamtlast oftmals verdoppelt. Doch auch der Gläubiger musste das wissen. Wenn er dennoch den Kredit vergab, ja seinem Kontrahenten möglicherweise aufdrängte, diesen vielleicht sogar zum Kreditgeschäft überredete, dann hat er seinen Ausfall selbst verschuldet.
Und was macht in der gegebenen Situation die deutsche Regierung? Sie tut alles, um mit einer europäischen Finanzreform ganz Europa ihren desaströsen Sparkurs aufzuzwingen, mit dem die Ungleichgewichte von Produktion und Verbrauch, von Export und Import in der Welt nur weiter vergrößert werden. Ihr Streben beruht auf den Denkansätzen des klassischen Kapitalismus aus dem 19. Jahrhundert. Deren Prämissen sind Konkurrenz statt solidarischer, sachorientierter Ökonomie, Eigennutz statt Gemeinwohl, Geld und Finanzwerte statt Sachreichtum und in der Konsequenz all dessen: grenzen- und sinnloses Wachstum des Verbrauchs der begrenzten natürlichen Ressourcen, statt mit diesen verantwortungsbewusst gegenüber den nachfolgenden Generationen zu haushalten.
Nun soll, so ist zu hören, über notwendige Reformen in Europa nachgedacht und diskutiert werden. Will man erreichen, dass danach nicht wieder nur an Schräubchen gedreht wird, um das System zu flicken, so müsste das System in seinem wesentlichen Kern so geändert werden, dass unter anderem folgendes erreicht wird:
-          Gewährleistung, dass der in Europa erzeugte Reichtum an Sachwerten und Leistungen verbraucht werden kann, ohne dass sich dazu weder private noch öffentliche Verbraucher bzw. Einrichtungen dauerhaft verschulden müssen.
-          Das setzt untere und obere Grenzen für die zu erarbeitenden Einkommen (Mindestlöhne und Höchstgehälter) auf wenigstens europäischer Ebene voraus.
-          Ferner müssten die Entscheidungskompetenzen von Personen und Institutionen  über Finanztransaktionen begrenzt werden.
-          Zu begrenzen wäre auch die Anhäufung von Finanzbeständen überhaupt in der Hand von Privatpersonen sowie von privaten und öffentlichen Einrichtungen. Darüber hinausgehende Bestände müsste eine staatliche Institution  im allgemeinen Interesse bedarfsgerecht umverteilen. Damit würde unter anderem auch erreicht, dass der Anreiz zur grenzenlosen Anhäufung von Geld- und Finanzvermögen, zum Raubbau an der Natur aus dem System verschwände.
-          Überhaupt müsste die Selbstvermehrung von Finanzvermögen durch Zinsnahme unterbunden werden, weil Geld seinem Wesen nach zum finanziellen, quasi buchhalterischen Gegenpol der in der Realwirtschaft durch Arbeit geschaffenen Sachwerte und Leistungen geworden ist, mit dessen Hilfe Produktion und Verbrauch des gesellschaftlichen Reichtums verbunden werden.
-          Und schließlich müsste die Finanzierung der öffentlichen Hand vom konjunkturellen Auf und Ab, also vom Steuerfluss unabhängig gemacht werden und direkt durch die Zentralbank erfolgen.
Gewiss, dies alles wäre weder kurzfristig noch mit einer einzigen Aktion zu erreichen. Aber jeder weitere Schritt bei der künftigen Reformierung des europäischen Finanzsystems müsste sich an einem solchen oder ähnlichen Konzept orientieren, wenn es gelingen soll, Europa ökonomisch, sozial und politisch dauerhaft zu stabilisieren. Europa muss sich als Wirtschaftsgroßraum verstehen, der nicht schlechthin produzieren, sondern sich auch reproduzieren muss. Und diesen Prozess gilt es, zwar nicht nach einem zentralen Plan, doch mit einem Gesamtkonzept zu steuern.