Donnerstag, 29. November 2012

Wuchern oder Wirtschaften?

Wuchern oder wirtschaften?
von Heerke Hummel
(Erschienen in: "Das Blättchen" Nr. 24, 26. November 2012)

Endlich! Europa wehrt sich gegen den antisozialen Sparwahnsinn seiner Finanzoligarchen mit
länderübergreifenden Aktionen. Millionen Menschen folgten am 14. November dem Aufruf des
Europäischen Gewerkschaftsbundes, legten die Arbeit nieder, brachten in Spanien und Portugal
mit Generalstreiks das öffentliche Leben zum Erliegen, protestierten gegen das Spardiktat ihrer
Regierungen. Staunend betrachteten die Deutschen das Treiben vom Turme ihres Wohlstands.
Wenigstens versicherte DGB-Chef Sommer die Protestierenden ringsum seiner Solidarität.
Auch das Institut Solidarische Moderne (ISM) unterstützte den „ersten breit getragenen, gren
züberschreitenden Aufruf zu Streiks in Europa“ und stellte Maßnahmen vor, die den europäischen
Integrationsprozess stabilisieren und progressiv weiterentwickeln können. Doch das alles genügt nicht.
Wer hierzulande meint, wir hätten (noch) keinen Grund, ebenfalls
auf der Straße aktiv zu werden, ist blind, wenigstens kurzsichtig. Denn ein ökonomischer
Kurswechsel ist nur zu erzwingen, wenn alle gemeinsam und gleichzeitig dafür kämpfen, auch
und vor allem die Stärksten. Zu glauben, wir könnten auch ohne gesunde, starke Nachbarn gut
leben, wäre ein gewaltiger Irrtum. Deren Schicksal darf uns nicht egal sein; nicht nur aus Mitgefühl,
sondern in unserem ureigensten ökonomischen und sozialen Interesse.
In Deutschland scheint man derzeit lieber zu debattieren. Beispielsweise bei Günther Jauch über
einen gerechten Lohn und Mindestlöhne wenige Tage vor den europaweiten Protesten. Da wird politisches
und soziales Engagement zu billiger Sonntagabendunterhaltung. Und was geboten wird, ist
eine Groteske. Reicht ein Mindestlohn von etwa acht Euro pro Stunde für ein menschenwürdiges
Leben in Deutschland, wie der ehemalige Müllfahrer und heutige SPD-Bundestagsabgeordnete Anton
Schaaf in Anlehnung an gewerkschaftliche Vorstellungen meint? Oder braucht man dafür, wie
Oskar Lafontaine behauptet, mindestens zehn Euro? Nach mehrheitlicher Auffassung der Debattierenden
würde ein solcher Betrag die Kosten der Arbeit so stark steigen lassen, dass Betriebe daran
kaputt gingen und noch mehr entlassene Arbeitskräfte den öffentlichen Kassen zur Last fielen; etwa
weil dann so mancher Rentner darauf verzichten müsste, sein Haar von einer Friseuse schneiden zu
lassen. Licht in das Dunkel von Rede und Gegenrede sollte ein von G. Jauch befragter Experte von
der Freien Universität Berlin (FU) bringen, der eine bedauernswerte Figur machte. Er antwortete auf
die Frage nach einem „richtigen“ Mindestlohn, das vermöchten die Wissenschaftler seines Instituts
nicht zu klären, man müsse wohl einfach vorsichtig probieren, was geht und was nicht geht. An diesem
Punkt der Sendung mochte einem der Vater unseres in diesem Jahr so viel beachteten Friedrich
II. von Preußen ins Gedächtnis kommen, dem nachgesagt wird, er habe, gefragt, warum er sich im
Unterschied zu anderen Herrschern seines Standes keinen Hofnarren halte, geantwortet: Wenn ich
mich amüsieren will, lasse ich mir zwei Professors kommen, damit sie kontrovers disputieren.
Damals hat man übrigens noch zu wirtschaften verstanden, wenn auch der Wucher natürlich
längst ein bekanntes, ja seit Jahrhunderten beklagtes Übel war – um auf unser eigentliches Thema zu
kommen. Wer aber, wie heute allenthalben, die schamlose Selbstvermehrung von Geld zum Kriterium
seines Handelns macht, also den Wucher in des Wortes allgemeinster Bedeutung, der verliert
den Sinn fürs Wirtschaften. Letzteres hat viel zu tun mit Teilen und Einteilen eines Ganzen, mit Zuteilen.
In Zeiten von Not und Bedrängnis ist das überlebenswichtig. In der Hungersnot nach dem
Zweiten Weltkrieg hat so manche Mutter das ohnehin durch staatliche Lebensmittelkarten rationierte
Brot sorgsam eingeteilt und die Scheiben, genau die Zahl und Größe beachtend, ihren Kindern
zugeteilt, um bis zum Monatsende, bei dem es neue Karten gab, mit dem Quantum auszukommen.
Das unter anderem bedeutete Wirtschaften in der Familie.
Das Sozialprodukt einer Gemeinschaft, der Deutschen beispielsweise, stellt ebenfalls ein
Ganzes dar, das es einzuteilen gilt, so wie überhaupt den Reichtum der Menschheit an Rohstoffen
und natürlichen Ressourcen allgemein. Auch diese sind nicht unbegrenzt, bilden einen
Fonds, der bislang nicht wirklich bewirtschaftet, sondern ausgeplündert wird. (Wenige Ausnahmen,
wenn auch hauptsächlich nur in Ansätzen, mögen die Regel durchaus bestätigen.) Um
diese Existenzgrundlage der Menschheit wird ein erbitterter Kampf geführt, schon seit hundert
Jahren, mit allen Mitteln und von allen Seiten, ohne das Wohl der Gesamtheit und damit die eigene
sichere Zukunft im Auge zu haben.
Das Pendant dieses Kampfes im Großen finden wir im Kleinen in den sozialen Konflikten der
Gegenwart. Dabei spielt die Wissenschaft, wenigstens soweit sie die öffentliche Meinung bestimmt,
eine beschämende Rolle, indem sie der Politik und der Wirtschaft kein brauchbares reproduktionstheoretisch
begründetes Handwerkzeug liefert. Bei den Ärmsten in Deutschland wird über zwei
Euro mehr oder weniger pro Stunde als Minimum unwürdig, ja schamlos debattiert, für die Großverdiener
aber gibt es nach oben keine Grenze. 10 Euro als Minimum bringen angeblich den ökonomischen
Kollaps; 500 Euro pro Stunde und mehr bei Jahresverdiensten über 1 Million dagegen sollen
kein Problem sein? Deutschland braucht wesentlich höhere Mindestlöhne auf Kosten von Großeinkommen.
Diese wären nach oben zu begrenzen. Möglicherweise bei dem Gehalt unserer Bundes9
kanzlerin in Höhe von angeblich 15.000 Euro monatlich. Das wären bei 20 Arbeitstagen á acht Stunden
rund 94 Euro, bei einem Fünfzehn-Stundentag immer noch 50 Euro pro Stunde. Etwa durch solche
Beschneidung großer Einkommen ließe sich der ökonomische Kreislauf von Produktion, Zirkulation
und Verbrauch störungsfrei gestalten und eine „gerechte“, den ökonomischen Erfordernissen
entsprechende Verteilung des geschaffenen Reichtums herbeiführen. (Ähnliche Gedanken äußerte
übrigens schon Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt vor Jahren.) Denn die hohen, durch wuchernden
Wildwuchs den realen Bedarf übersteigenden Einkommen gehen genauso in die Kosten ein wie die
niedrigsten, über die allein heute debattiert wird. Und sie werden zu einem erheblichen Teil von
ihren Besitzern nicht regelmäßig wieder ausgegeben und verbraucht, sondern als Finanzmittel meist
auf Dauer geparkt, gegen Rendite verliehen. Ja, wir brauchen Marktwirtschaft, denn ohne ein hohes
Maß an Eigen- und Einzelverantwortung und entsprechender Entscheidungskompetenz geht es
nicht. Aber ihr müssen Grenzen gesetzt werden, auch hinsichtlich der Löhne und Gehälter, nach unten
und nach oben. Gewiss, das setzt ein Umdenken, eine andere, durchaus nicht neue Betrachtungsweise
von Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Es gab sie schon einmal, wenngleich als Zerrbild.
Diese unglückliche Erscheinung aus der Vergangenheit darf in der Gegenwart den Blick auf
das Wesentliche der Sache nicht trüben und schon gar nicht blind machen für das künftig Erforderliche.
Denn das Ökonomische der Angelegenheit ist die eine Seite der Medaille, das Politische
die andere. Die jüngsten Ereignisse um Deutschland herum zeigen, wie sehr der soziale
Frieden in Gefahr ist, auch in Deutschland. Wir sind ja nicht besser als die anderen, sondern
ebenso verschuldet und leben ebenso auf Kredit. – Mit dem Unterschied allerdings, dass „die
Märkte“ uns noch Kredit geben, weil sie nicht wissen, wohin sonst mit ihrem Geld, und weil sie
von dem trügerischen Glauben beseelt sind, wir würden, anders als die anderen da im Süden,
immer unsere Schulden begleichen können. Es ist der Glaube, die unbedingte Hoffnung von
Wucherern auf die Selbstvermehrung ihres Geldes.

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