Chinesische
Denkanstöße
Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 8/2012)
Die
Mitteilung, die Chefs der BRICS-Staaten hätten auf Ihrem Treffen Ende März in
Neu-Delhi die Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsbank als Gegenpol zur
Weltbank ins Auge gefasst, erregte nur sehr kurze Zeit die Aufmerksamkeit der
hiesigen Öffentlichkeit. Dann ließ man sich von Kommentaren beruhigen, welche
die Bedeutung dieses Beschlusses mit der Bemerkung herunterspielten, er sei die
bisher einzige kreative Idee dieser gerade mal drei Jahre kooperierenden
Staatengruppierung gewesen. Beruhigen mochte in heutiger, schnelllebiger Zeit auch der Hinweis, dass die
betreffenden Finanzminister den Vorstoß zu prüfen und sich beim nächsten Gipfel
dazu zu äußern haben, man von einem solchen Finanzinstitut also noch weit
entfernt sei. Außerdem glaubte man feststellen zu können, dass es sich bei Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika um Länder mit konkurrierenden
politischen Systemen und entgegengesetzten geostrategischen Interessen handelt,
ohne historischen Zusammenhalt. BRICS ein Chaosklub statt ernstzunehmende
Alternative zur westlichen Globalisierungsstrategie? Diese Frage aus dem ARD-Hörfunkstudio Südasien konnte auch
Hoffnungen derjenigen ausdrücken, die den Bestrebungen der bisher Benachteiligten
dieser Welt mit Argwohn begegnen.
Immerhin repräsentieren die fünf Nationen aus vier
Kontinenten 43 Prozent der Weltbevölkerung und ein Viertel der Weltwirtschaft.
Unter dem Motto "Eine BRICS-Partnerschaft für globale Stabilität,
Sicherheit und globalen Wohlstand" haben ihre Repräsentanten beschlossen,
„untereinander und mit dem Rest der Welt an nachhaltigen und echten Lösungen
von regionalen und globalen Problemen zu arbeiten", wie von Seiten
des indischen Außenministeriums formuliert wurde. Schon dieser eine Satz lässt
eine ganz andere Denkweise erkennen, als sie in der westlichen Hemisphäre
üblich ist und in der Frage eines Kommentators zum Ausdruck kommt: „Muss sich der Westen in Acht nehmen?“ Wieso
eigentlich? Ausdrücklich wird doch von der Zusammenarbeit mit der übrigen Welt
gesprochen. Aber es soll um echte
Lösungen regionaler und globaler Probleme gehen, nicht um Fiktionen von
Oligarchen in den Finanzzentren der Welt. Echte Lösungen betreffen die sachlichen
Probleme der Produktion und des Austauschs sowie des Schutzes der Umwelt im
Interesse des Wohlstands von Milliarden Menschen. Sie betreffen die Überwindung
von Not und Elend und die Sicherung des sozialen Friedens in der Welt, die
Bewirtschaftung unseres Planeten im Interesse aller. Nur wer dies nicht will, müsste
sich in Acht nehmen.
Wer immer im Westen das Sagen hat, sollte ernst nehmen, was sich da am anderen Ende der
Welt neu zu entwickeln beginnt, und mit der Bereitschaft verfolgen, sich an dem
Prozess der Erneuerung dieser Welt und ihres sozialen Gefüges kooperativ zu
beteiligen. Die Europäische Union wäre dank ihrer Traditionen im Denken,
insbesondere im Verständnis von Wirtschaft und Wirtschaften, berufen, dabei
eine Vorreiterrolle zu spielen. Denn Veränderungen im Handeln der Menschen
müssen notwendigerweise durch den Kopf der Menschen, setzen verändertes Denken
voraus. Und ein Umdenken wird auch hier schon seit geraumer Zeit von
verschiedenster Seite gefordert.
Der Glaube, unterschiedliche politische Systeme
müssten eine ökonomisch gestaltende Zusammenarbeit der Staaten erschweren oder
unmöglich machen, ist Folge eines Egozentrismus, der das Eigene für den Nabel
der Welt hält und nicht zu verstehen vermag, dass andere – vor allem historische und ökonomische –
Bedingungen andere politische Systeme hervorbringen und weitgehend notwendig
machen. Die westliche Welt leidet unter solcher Arroganz seit dem Siegeszug
ihres Kapitalismus. Sie könnte von den Chinesen lernen, die unter der geistigen
Führerschaft von Deng Xiao Ping in wenigen Jahrzehnten einen beispiellosen
ökonomischen und sozialen Wandel ihres Landes zu vollbringen vermochten, weil
sie im Denken beweglich waren und sich von Dogmen lösten. Zwischen Form und Inhalt
politischer und ökonomischer Verhältnisse unterscheidend konzentrierten sie
sich auf das Wesentliche und praktisch Notwendige bzw. Nötige in der Realität:
Sie verzichteten auf „sozialistische“ und „kapitalistische“ Worthülsen und öffneten
der Eigeninitiative und Verantwortung
von Unternehmern im Rahmen einer (scheinbar kapitalistischen) Marktwirtschaft
Entfaltungs- und Wirkungsräume. Gleichzeitig sicherten sie aber das Primat der
Politik einer Zentralmacht zur Steuerung der bedeutenden sachlichen Prozesse
(und daraus abgeleitet gewiss auch finanzieller) im nationalen Interesse Chinas
und des chinesischen Volkes in seiner Gesamtheit auf lange Sicht. Der Markt
steuert – wenn man das überhaupt so nennen kann – nur kurzfristig und einseitig
gewinnorientiert im Interesse der ökonomisch Stärkeren. Sozial zu denken und
zielgerichtet auszugleichen vermag er nicht. Damit steht er, auf sich allein
gestellt, einer echten Lösung der globalen Probleme der Gegenwart im Wege. Er
verschärft sie sogar, gefährdet den Frieden und bedarf seiner Unterordnung
unter einen zielgebenden politischen Willen.
In Europa ist man von freiem, entideologisiertem
Denken und Handeln noch weit entfernt. Hier wird der Blick gebannt gerichtet entweder
auf eine ebenso illusionäre wie desaströse, scheinbar kapitalistische
Finanzvermehrung um jeden Preis und ohne reale sachliche Bezüge einerseits oder
andererseits auf die nicht weniger wirklichkeitsfremde Angst bzw. Hoffnung den
Sozialismus betreffend. Beide „Systeme“, Kapitalismus wie Sozialismus,
beherrschen mit allen davon betroffenen positiven wie negativen Erwartungen das
Denken und setzen ihm Schranken seit über hundert Jahren, obwohl es längst
nicht mehr um diese Gespenster geht, sondern um die Wiederherstellung des
Primats der Politik, damit die Wirtschaft in ihren sachlichen Bezügen zum Wohl
der Menschen nicht nur Deutschlands und Europas, sondern letztlich der Welt,
reguliert werden kann.
Die jüngsten Absprachen der fünf Staatsmänner von
vier Kontinenten dürften in hohem Maße auf chinesische sowie indische Denkanstöße
zurückgehen, die aus der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften bzw.
der Observer Research Foundation in Delhi kommen. Dort glaubt man, „dass das
globale Nachdenken über Entwicklung bisher durch westlich dominierte
Institutionen wie die Weltbank oder die großen amerikanischen Universitäten
ungut vereinfacht wurde“. Während der Westen unter ökonomischer Entwicklung
Wirtschaftswachstum im Sinne maximaler Kapitalvermehrung (und stelle diese sich
auch in noch so illusionären Wertgrößen dar!) versteht, soll die BRICS-Bank sachliche „Entwicklungskonzepte zum Beispiel
aus China oder Indien nach Indonesien oder Nigeria exportieren – als
Alternative zu den Rezepten der Weltbank“. Dabei soll die Bank nur noch mit Krediten
in den Währungen der BRICS-Länder handeln. Und auf Grund eines Börsenabkommens
„soll jeder Chinese in seiner Währung Aktien in den
übrigen vier Brics-Staaten kaufen können, ohne Umtausch in eine westliche
Weltwährung. Das gilt dann umgekehrt genauso für Inder, Russen, Brasilianer und
Südafrikaner“.
Auch das notwendige Geld
wird zu einem Großteil aus China kommen. Im Gespräch sind (umgerechnet) 150
Milliarden Dollar, für Indien und Brasilien je weitere 50 Milliarden.
Einzelheiten die Währungsrelationen und Umtauschmodalitäten betreffend wurden
bisher nicht bekannt. Doch auf Grund bisheriger internationaler Erfahrungen
dürfte man mit fest vereinbarten Umrechnungskursen rechnen können.
Was die sachlichen Auswirkungen
der Absprachen von Neu-Delhi betrifft, so dürften sie die Wirtschaft und ihre
Entwicklung in den BRICS-Ländern stabilisieren und weniger abhängig vom Westen
machen. Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen
von Milliarden Menschen. Zu erwarten ist, dass sich der innerregionale
Austausch von Gütern und Leistungen in diesem Teil der Welt wesentlich
beschleunigt. Eine Gefahr für den Westen ist daraus nicht ableitbar. Es sei
denn, man betrachtet den Abbau neokolonialer Ausbeutung durch imperialistische
Finanzbeziehungen als Desaster für Europa und die USA.
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