Aufklärung, Warnung, Mahnung
Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: "Das Blättchen", 6/2012)
Vor einem Scheideweg stehen Deutschland, Europa und
die Weltgemeinschaft der Völker. So etwa sieht die heutige Situation Heiner
Flassbeck in seinem Buch „Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“[i],
mit dem er für ein ökonomisches Umdenken und Überwinden der herrschenden
Ideologie des Neoliberalismus kämpft, weil der soziale Friede in Gestalt der
Demokratie in höchstem Maße gefährdet ist. Das ideologische Trommelfeuer einer
übergroßen Mehrheit der Ökonomen habe in den letzten vier Jahrzehnten ein falsches,
eben neoliberales „Weltbild“ zur Herrschaft in der Volkswirtschaftslehre gebracht.
Und die Versuche, darüber aufzuklären, dürften nicht aufgegeben werden – auch
wenn, bzw. gerade weil die auf ihre Exportüberschüsse so stolzen deutschen
Politiker und Unternehmer das System nicht verstanden haben und sich damit
abfinden werden müssen, ihre Marktanteile wieder zu verringern, wenn der Euro
aus der Krise gebracht werden soll. (S.15)
Flassbeck schafft es, mit seinem Buch nicht nur
aufzuklären. Er stellt die Betrachtungsweise ökonomischer Prozesse wieder vom
Kopf auf die Beine, indem er den sachlichen Beziehungen das Primat einräumt, ihnen
die Geld- und Finanzbeziehungen unterordnet und so Ökonomie – auch für den
ökonomischen Laien – wieder verständlich macht. Das ist notwendig, weil
letztlich alle Produktion, alles Arbeiten dazu dienen soll, Bedürfnisse der
Menschen zu befriedigen. Gerade durch diese Umkehr, die Unterordnung der
Finanzen, kann das Geld wieder zu einem Steuerungsinstrument der Politik
werden, um sachliche ökonomische Strukturen, sei es die Umwelt und die
natürlichen Ressourcen oder neue Technologien, das Arbeitsvermögen und die
Einkommensverteilung bis hin zu den Rentensystemen betreffend, zu steuern. Die
Märkte, insbesondere der Finanzmarkt, steuern nicht. Sie desorientieren, weil sie
nicht denken und die komplizierten ökonomischen Zusammenhänge weder analysieren
noch berücksichtigen, sondern sich eindimensional mit der grenzenlosen
Vermehrung des abstrakten Reichtums in Gestalt von Finanzwerten begnügen. Sie
befriedigen nur ein einziges – vollkommen abstraktes – Bedürfnis der Besitzer:
Reichtum in seiner finanziellen Erscheinungsform zu vermehren. Und sei dieser
Schein auch noch so trügerisch, fern aller Realität! Die Finanzblasen der
aktuellen Krise belegen dies.
Der Staat, sagt Flassbeck, ließ sich systematisch
aus seiner Steuerungsfunktion hinausdrängen, um sich mit der Schaffung
scheinbar günstiger Rahmenbedingungen für die Kapitalverwertung zu begnügen –
mit verheerenden praktischen Folgen aus volkswirtschaftlicher Sicht. Der
frühere Staatssekretär denkt und
argumentiert praktisch-sachbezogen, eben volkswirtschaftlich, doch keineswegs
naturalwirtschaftlich in des Wortes gelegentlich diffamierend gebrauchter
Bedeutung. Seine Analysen, Fragestellungen und Antworten können auch als eine
praktische Volkswirtschaftslehre angesehen werden und sind allen ökonomisch
Interessierten, insbesondere allen in einer ökonomischen Ausbildung
Befindlichen, zur Lektüre dringend zu empfehlen. Denn auch wer „nur“
betriebswirtschaftliche Strategien und Entscheidungen zu entwickeln beziehungsweise
zu treffen hat, muss deren Einordnung ins volks- und weltwirtschaftliche Ganze
verstehen. Wirtschaften heißt nämlich nicht nur Produzieren. Es bedeutet auch
Konsumieren und beides im Reproduktionsprozess durch Handel zu verbinden. Und
Handel besteht nicht nur im Verkaufen, sondern gleichermaßen im Kaufen. Beides
muss sich die Waage halten. Doch gerade dies gewährleisten die Märkte mit ihrem
gnadenlosen Konkurrenzkampf um Leben oder Tod allein, von sich aus schon lange
nicht mehr. Heiner Flassbeck weist das präzise nach und wirft der Wissenschaft,
der Wirtschaft (vor allem der Finanzwirtschaft) und der Politik,
parteiübergreifend von rechts bis links, Unverständnis und gravierende
Fehlentscheidungen vor. Er kritisiert den „heiligen“ Freihandel, den falschen
Preis, den falschen Lohn, den falschen Wechselkurs, den falschen Zins, das
falsche Sparen, das Versagen der Ordnungspolitik, den Wettbewerb als Dogma. Und
er tut das sehr anschaulich und verständlich. Der Zauberspruch einer
Marktwirtschaft heißt bei ihm nicht „jeder gegen jeden“, „sondern ‚einheitlicher
Preis für ein und dasselbe Gut, sei es nun Arbeit, ein Produktionsmaterial, ein
Rohstoff oder Kapital‘. … Nur diese Regel, stur angewendet, zum Beispiel auch
mittels des Flächentarifvertrags für Arbeit der gleichen Qualität, verhindert,
dass sich Arbeitnehmer untereinander oder Firmen gegenseitig in Grund und Boden
konkurrieren durch Preisunterbietungskämpfe, die durch keinerlei
technologischen Fortschritt gespeist sind, oder dass einzelne Berufsgruppen
ihre Marktmacht missbrauchen und für sich mehr heraus holen als die
durchschnittliche Produktivitätssteigerung in der gesamten Volkswirtschaft“(gestattet).
(S. 172 f.)
Im Abschnitt „Die angemessenen Antworten“ zeigt
Flassbeck, wie im 21. Jahrhundert den ökonomischen, ökologischen und
politischen Herausforderungen, vor die sich die Menschheit gestellt sieht,
begegnet werden kann. Insbesondere macht er deutlich, dass und wie die
Spekulation auf allen Märkten zu unterbinden ist. Damit unser Planet geordnet
und friedlich bewirtschaftet werden kann, müsse eine Teilhabe aller Menschen am
gemeinsam erarbeiteten Fortschritt ermöglicht und der Wettkampf der Nationen
beendet werden. Nur so sei die natürliche Welt zu retten. Dazu bedürfe es einer
neuen nationalen und internationalen Politik.
Für den Fall, dass es nicht gelingt, eine solche
durch und im Verlaufe eines allgemeinen Umdenkungsprozesses in Gang zu setzen, warnt
Heiner Flassbeck vor größten Gefahren für die Demokratie und den sozialen
Frieden. Grundlegend falsch und politisch töricht sei es, in der schwierigen
Situation Europas die Schuldfrage zu stellen. „Wer der simplen Vorstellung
folgt, die Schuldfrage sei klar und Länder ließen sich wie Unternehmen oder ein
Privathaushalt sanieren, riskiert das Ende der europäischen Integration“, so
Flassbeck. Als objektiver Beobachter, der die sachlichen Zusammenhänge
durchschaut und dargelegt hat, mahnt er vor allem die Wahrnehmung der
Verantwortung der starken Mächte, insbesondere Deutschlandlands an. Denn in
Berlin werde „offenbar immer noch nicht zur Kenntnis genommen, dass eine
Variante, bei der ein Land seine Wettbewerbsfähigkeit und seine Marktanteile
vollständig erhält oder gar weiter ausbaut, nicht denkbar ist.“ (S. 226) Noch
gebe es eine kleine konkrete Chance für die europäische Politik zu verhindern, dass
Europa politisch und wirtschaftlich zerbricht. Deutschland müsse sich dazu aber
jetzt bereiterklären, im Verein mit den Partnerländern einen Prozess in Gang zu
setzen, der den anderen Ländern in den nächsten zehn Jahren eine Möglichkeit
gibt, ihre außenwirtschaftliche Position zu konsolidieren und ihre
Staatshaushalte zu stabilisieren. Entscheidend dafür sei die Bereitschaft der
Bundesregierung, in Gesprächen mit Gewerkschaften und Arbeitgebern auf
nationaler Ebene und im makroökonomischen Dialog auf europäischer Ebene alles
dafür zu tun, dass sich die Lücke in den Lohnstückkosten im Euroraum über einen
Zeitraum von zehn Jahren schließt. Nur wenn den Mitgliedern der Europäischen
Währungsunion, den Mitgliedstaaten in der Europäischen Union und dem Rest der
Welt auf diese Weise vorgeführt wird, dass Europa in der Lage ist, auch mit
dieser Krise konstruktiv umzugehen, habe die europäische Idee eine Chance. Ohne
diesen Weg werde ein Rückfall in antieuropäische oder gar nationalistische
Tendenzen nicht zu verhindern sein.
Zwei Jahre sind bereits vergangen, seitdem dies der
nicht gerade unbekannte Fachmann und erfahrene Praktiker auf dem Gebiet der
internationalen Wirtschaftsbeziehungen veröffentlicht hat. Und doch hat sich,
obgleich er auch danach ständig mit Vorträgen für die Vernunft stritt, in der
Realpolitik – auch Deutschlands – nichts verändert. Erschreckend angesichts der
dramatischen aktuellen Lage!
[i] Heiner Flassbeck, Die Marktwirtschaft des
21. Jahrhunderts, Westend/Piper Verlang GmbH, Frankfurt a.M./München 2010
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