Samstag, 26. März 2011

Nachtrag im "Blättchen"

Zu meinem Beitrag "Kairos in Kairo?" im "Blättchen" schrieb Thorsten Koppusch im dortigen "Forum":
 
Thorsten Koppusch sagt:
Lieber Heerke Hummel,
Für die Nüchternheit, mit der Sie die aktuellen Prozesse in Ägypten bzw. Nahost überhaupt beleuchten, meinen Respekt. Ein wirklich sehr guter Beitrag (unter weiteren in dieser Ausgabe, Glückwunsch!).
Nur in einem belassen Sie es leider nur bei einer mehr oder weniger beklagenden Zustandsbeschreibung, deuten bedauerlicherweise nicht einmal an, worin eine sinnvolle Alternative bestehen könnte:
“Wahnsinnige brachten die Völker der Erde seit einem Jahrhundert immer wieder an die Macht, von Wahnsinnigen ließen sie sich verführen, um sich dann von ihnen zu befreien oder befreien zu lassen. Und sie nennen es noch immer Demokratie, an die sie glauben wie an einen paradiesischen Zustand – bis die Realität des Elends sie aus dem eigenen Wahn reißt. Dann folgt der nächste demokratische Akt, der nächste Umsturz, um in die nächste Malaise zu münden, die sich von der vorigen nur durch die handelnden Personen und vielleicht noch durch ihren inneren Mechanismus unterscheidet.”………….
Gewiß, das ist so. Wenn es aber trotz des Selbstverständnisses demokratischer Gesellschaftszustände so ist und also eben schlecht, fruchtlos, ja furchtbar – welche Gesellschaftsformen wären denn die Alternative? Diktaturen (zu denen die “sozialistischen Demokratien” ja doch wohl auch gehörten) ? Anarchien? Demokratischer Sozialismus; je, vielleicht – der wäre aber erstens noch genauer zu definieren und zweitens – wenn er denn die Möglichkeit hätte, sich irgendwo zu etablieren – hätte er sich zu realisieren. Und das dann mit Sicherheit erneut gegen objektive und subjektive Widerstände, die ihrerseits wiederum Gewalt in irgendeiner Form vonnöten machen müßte, und so weiter, und so fort…
Ist es denn – wenngleich tief ernüchternd – nicht eben doch so, wie Churchill zugeschrieben wird, daß die Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen sei – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.
Ihr Thorsten Koppusch

Meine Antwort:
Lieber Thorsten Koppusch!
Zuerst möchte ich Ihnen für die freundlichen Worte danken und mich für die Verzögerung dieser Antwort entschuldigen, die mir ein wenig Nachdenken abverlangte! Mit Ihrer Frage haben Sie mich auf ein „weites Feld“ geführt, wie Theodor Fontane in seinem Roman den Gutsbesitzer von Briest hat sagen lassen.
Ich habe nämlich mit den „Gesellschaftsformen“, hier und heute insbesondere „Demokratie“ so meine Schwierigkeiten, die mir in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind und sich entwickelt haben. Ich weiß heute nicht mehr so recht, was das ist: „Demokratie“, „Kommunismus“, „Sozialismus“ (auch „demokratischer“), „Kapitalismus“. Was ist, wo beginnt und endet und wo existiert(e) das eine und das andere? Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, was da gut, besser oder weniger gut ist. (Hitler ist „demokratisch“ an die Macht gewählt worden, Gaddafi begann, wenn ich mich recht erinnere, seine Machtkarriere als putschender Offizier und Hoffnungsträger des Volkes, andere Politiker machten eine Metamorphose vom befreiten Häftling zum Diktator durch (Beispiel E.H.), und die regierenden „Demokraten“ Westeuropas sind selbst Opfer einer Diktatur der Wirtschaft und ihrer Lobby, also der Märkte, aber auch des Wahlvolkes, das nicht solide, langfristige, oft mühevolle Strategien honoriert, sondern „Spitzenerfolge“ bei der Jagd nach Wohlstand auf weniger als Fünfjahressicht. Verweisen möchte ich auch auf die Rolle einer (käuflichen?) Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft, die seit anderthalb Jahrhunderten ein fest gefügtes System von Dogmen errichtet hat, von dem das gesellschaftliche Bewusstsein so tief geprägt wurde, dass ein freies, vorurteilsfreies Denken der Wissenschaftler selbst kaum noch möglich zu sein scheint und bei Politikern und Wirtschaftspraktikern schon gar nicht. Sie alle denken nur noch an und in Geld und sonstigen Finanzgrößen. Das Wirtschaften hat sich für sie auf den Umgang mit und die Vermehrung von Geld reduziert. Es bedurfte der Klima- und Reaktorkatastrophen, um CO2 und Strahlungsrisiken ins Bewusstsein der politischen Entscheidungsträger zu bringen.
Inzwischen bezweifle ich auch den Sinn von Definitionen und verzichte nach Möglichkeit auf den Gebrauch unklarer (Totschlag-)Begriffe wie die oben genannten. Ich habe mir angewöhnt, nach den Ursachen bestimmter gesellschaftlicher Erscheinungen zu fragen. Denn mir scheint es in der Natur der Sache zu liegen, dass gesellschaftliches Handeln immer einer Koordinierung, also auch des Wirksamwerdens von Koordinierenden („Führern“) und „Geführten“, sich Unterordnenden bedarf. Und von den vielfältigsten Bedingungen, äußeren und inneren Umständen (z.B. vierzigjähriger Kalter Krieg zwischen West und Ost) sowie historischen Traditionen usw. hängt es wohl ab, wie viel Herrschaft einerseits und individuelle Freiheit bzw. Eigenverantwortung andererseits ein gesellschaftliches System (Staat/Staatengemeinschaft) braucht, um stabil zu sein, sich zu erhalten, zu funktionieren. Das alles sind dynamische Prozesse, die eine fortlaufende Anpassung der gesellschaftlichen Strukturen und Organisationsformen bzw. der Funktionsweisen des gesellschaftlichen Lebens erfordern – sei es durch (friedliche, freiwillige) Reformen oder durch Gewalt im Gefolge von Revolutionen.
Ich vermag also keine alternative Gesellschaftsform (zur heutigen) zu sehen bzw. zu denken, Herr Koppusch. Ich erwarte, halte für wahrscheinlich eine Reform der heutigen Gesellschaft, der Art und Weise ihres Denkens und ökonomischen Handelns, sicherlich auch ihrer Strukturen, ihres Rechtssystems usw. Das wird sicherlich ein ziemlich qualvoller Prozess von Reaktionen auf Krisen aller Art werden, denn erstens wird ein Umdenken nur schrittweise vor sich gehen und sich nicht in einem neuen „Modell“ – welcher Gesellschaft auch immer – manifestieren, und zweitens wird es ein globaler Prozess sein müssen, der das Handeln der Weltgesellschaft betreffen wird und in der praktischen Umsetzung funktionieren muss. Das halte ich nur in einzelnen Schritten für möglich. Entscheidend wird dabei wohl ein ökonomisches Umdenken sein müssen. Wir brauchen eine neue, realistische Vorstellung davon, was den Reichtum der menschlichen Gesellschaft ausmacht, wie er entsteht (nämlich durch Arbeit – das entdeckte schon Adam Smith im 18. Jahrhundert), wie er verteilt werden muss, damit die Weltgesellschaft harmonisiert wird, und welche Rolle das Geld dabei spielt, was es seinem Wesen nach heute ist, wie es demzufolge zu funktionieren hat.
Ich kann das alles hier natürlich nicht weiter ausführen. Nur so viel: Aufklärung ist notwendig, Befreiung von der Illusion, die heutige Gesellschaft ließe sich noch mit Begriffen erfassen oder leiten, die vor anderthalb Jahrhunderten und mehr geprägt wurden. Die ökonomische Basis der Gesellschaft hat sich grundlegend gewandelt, und es ist allerhöchste Zeit, den politischen und geistig-kulturellen Überbau der veränderten materiellen Basis (sicherlich schrittweise) anzupassen, beispielsweise durch ein Rechtssystem, das den gesellschaftlichen Charakter des Produktions- und Finanzsystems anerkennt, ebenso das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft, und das die Kompetenzen der ökonomischen Akteure im notwendigen Maße definiert/beschränkt (beispielsweise Mindestlöhne und Höchsteinkommen, Grenzen für die Verfügung über Geld- und Finanzvermögen und überhaupt Grenzen für solche Bestände, so dass der Anreiz zur sinnlosen Vermehrung von Geld- und Finanzbeständen, zum sinnlosen Raubbau an der Natur und zur Zerstörung unserer Umwelt verlorengeht, u.v.a.m.).
Gewiss ließe sich noch viel mehr sagen, aber für heute soll dies genügen. Ich grüße Sie!
Ihr Heerke Hummel
Nochmals Thorsten Koppusch:
Kommentar:
Lieber Heerke Hummel,
danke für Ihre ausführliche Antwort. Und für die Ehrlichkeit, eine verbindliche Voraussage dafür, wie und wohin genau sich unsere derzeitige Gesellschaft entwickeln wird - oder gar "gesetzmäßig entwickeln muß". Sicherlich haben diejenigen, die da  - auf der Basis fester Überzeugungen alle möglichen Couleur - Bescheid zu wissen meinen, es mit sich leichter, ersparen Zweifel doch z.T. qualvolles Nachdenken; nur eben ist auch mir das meistens nur noch suspekt.
Ich teile Ihre Position weitestgehend und bin Ihnen dankbar, dass Sie diese Ihrem Beitrag im Blättchen auf diese Weise erweiternd nachgetragen haben. Wem Bescheidwisser wichtiger sind, der lese den "Rotfuchs", deren Autoren schon seit Jahrzehnten Bescheid wussten und sich dieses glückliche Selbstbefinden bewahrt haben.
Mit freundlichen Grüßen,
Th. Koppusch

Kairos in Kairo?

Kairos in Kairo?
Von Heerke Hummel
(Erschienen in: Das.Blättchen, Nr. 6/2011)
Oder wird es in Ägypten und anderswo beim „Vom Regen in die Traufe“ bleiben? Zweifellos war ein günstiger Zeitpunkt für eine Entscheidung zu grundlegendem gesellschaftlichen Wandel in mehrfacher Hinsicht gegeben, als die Hauptstadt am Nil, „die Starke“ (arabisch al-Qahira), sich erhob, um das Joch einer jahrzehntelangen Despotie abzuschütteln. Bedeutender als der „tunesische Anstoß“ dürfte in dieser Hinsicht die Überreife der Weltgesellschaft sein, die von einer Krise in die nächste taumelt, weil bzw. solange sie nicht in der Lage ist, die Barbarei zügelloser Skrupellosigkeit zu überwinden und ihre politischen Strukturen so zu ordnen, dass ihre produktiven Kräfte unter Kontrolle gebracht und zum Wohl aller entfaltet werden. – Und dies nun schon seit hundert Jahren!