Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: Das Blättchen, Nr. 23/2011 - www.das-blaettchen.de)
So skeptisch man die Ergebnisse des G20-Gipfels im
südfranzösischen Cannes auch beurteilen mag – eines hat er erreicht: Er
erteilte der Welt eine Lektion in Sachen Demokratie. Griechenlands
Ministerpräsident Papandreou wurde vom internationalen Finanzadel bzw. dessen
Machtausübenden gezwungen, seine Ankündigung einer Volksbefragung über die
erpressten Sparmaßnahmen zurückzunehmen. Die Völker dürfen – nach welchem Modus
auch immer - frei ihre Herren wählen. Doch wo sie eine Umverteilung des
gesellschaftlichen Reichtums erzwingen wollen, endet der Spaß, auch wenn nur
auf diese Weise der ökonomische Kreislauf funktioniert, der produzierte
Reichtum konsumiert werden kann. Da soll dann eher gespart und dank Massenarbeitslosigkeit
einfach weniger geleistet und produziert werden. Gegen diese volksverachtende
Strategie wehrt sich das griechische Volk schon seit Monaten mit seinen
Protesten und Streiks, weil „freie Wahlen“ nicht helfen. Diese Aktionen, wie
auch die Vorgänge auf dem G20-Gipfel, zeigen, dass Demokratie kein Geschenk,
kein Zustand (der Ruhe) ist, sondern gesellschaftliche Aktion. Um mit Goethe zu
reden: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern
muss!
Von Athen ist der zündende Funke des Widerstands
nach New York an die Wall Street und von dort zum Frankfurter Bankenzentrum
übergesprungen. Die Forderung nach Regulierung und Reformierung der
Finanzarchitektur ist unüberhörbar geworden, weil sie die Massen zu ergreifen
beginnt. Doch niemand sollte sich von Beschlüssen wie denen des Treffens von
Cannes einlullen lassen. Denn die angekündigte Kontrolle von 29 Großbanken
weltweit – beispielsweise die Bonizahlungen an die Manager oder die Auflage
hoch spekulativer Fonds betreffend – sind eher Beruhigungspillen für das
Gewissen der Akteure und für das öffentliche Gemüt. Dennoch sind es, wenn viel
zu kleine, Schritte in die richtige Richtung. Diesen müssten folgen die
Beendigung der Spekulation an den Finanz- und Warenmärkten und schließlich die
Einführung möglichst weltweiter Mindestlöhne einerseits und Höchsteinkommen
andererseits; denn die ungeheuren Spannungen und Konflikte im sozialen und
politischen Bereich, die schon vorhandenen und vor allem die für die Zukunft
bereits absehbaren, resultieren aus den desaströsen Ungleichgewichten in der
Welt. All dies würde immer noch nicht
das System in Frage stellen, die leistungslose Vermehrung von Finanzreichtum
durch Zinsnahme, Renditen usw.
Wie undendlich weit man von einer solch echten
Beseitigung der Krisenursachen noch entfernt ist, zeigte in Cannes die strikte
Weigerung des einstigen Hoffnungsträgers Amerikas, Obama, über die Einführung
einer Finanztransaktionssteuer auch nur zu reden. Der Präsident erweist sich
damit wieder einmal als Marionette der US-amerikanischen Hochfinanz, die mit
Finanzspekulationen offenbar unsäglich verdient und nicht ablassen will von dem
Grundsatz „Geld regiert die Welt!“ – allen Geschwafels von Demokratie zum
Trotz.
Zu Fragen ist nach der Verantwortlichkeit der Personen,
die sich in Cannes versammelten. Hätten andere in der heute gegebenen Situation
in der Welt bessere, weiter reichende Beschlüsse fassen und dann auch
realisieren können? Wohl kaum! Gregor Gysi soll in einer Stellungnahme vom
Fehlen einer europäischen Führungspersönlichkeit gesprochen haben; sicherlich
zu Recht. Doch hätte eine solche in der Auseinandersetzung mit Amerika, China,
Russland usw. mehr bewirken können (wenn sie denn überhaupt „klüger“ wäre)?
Offenbar ist die Welt zwar objektiv überreif für die Einrichtung einer
Institution zur solidarischen „Bewirtschaftung“ der Welt im allgemeinen
Interesse (als Gegensatz zum egoistischen Kampf aller gegen alle), doch
subjektiv ist sie nicht in der Lage, mutig die notwendigen Schritte dahin zu
tun. Das gilt besonders für die hoch industrialisierten Staaten. Sie müssten
beispielgebend voran gehen nach dem Kantschen Grundsatz „Handle so, dass die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könnte!“. Solchem Grundsatz wird die Politik, betrieben von
wem auch immer, wohl nur – wenigstens einigermaßen - gerecht werden können,
wenn der Druck, dem sie zu folgen hat, groß genug ist. Das ist besonders auch
der Druck gelebter Demokratie, der Straße, der nicht nachlassen sollte und
wahrscheinlich auch nicht nachlassen wird. Bezeichnend und zukunftsweisend ist,
dass sich der Bewegung für eine Reformierung des Finanzsystems nun auch
„Fachleute“ des Bankwesens anzuschließen beginnen. Doch wo bleiben die Stimmen
aus der Wissenschaft? Wo sind die wirtschaftstheoretischen Grundlagen für neues
Denken in der Praxis? Die von Karl Marx im „Kapital“ entwickelte Theorie – so
richtig und wichtig sie zu seiner Zeit auch war – reicht für die heutige
Situation und ihre Bewältigung allein nicht mehr aus. Sie muss entsprechend den
heutigen Bedingungen in der Welt der Wirtschaft weitergedacht werden, um zur
geistigen Grundlage nicht nur der ökonomischen Fachwelt, insbesondere des
Finanzsektors, sondern auch einer breiten Volksbewegung für ein zeitgemäßes
Wirtschaften auf unserem Planeten werden zu können.
Der Druck auf die Politik wird nicht nachlassen,
solange die Krise nicht wirklich bewältigt ist, ihre Ursachen beseitigt sind.
Und das Wenige, was dazu in jüngster Zeit europaweit und international
beschlossen wurde, lässt vermuten, dass die Feuerwehreinsätze auf oberster
Ebene so schnell nicht abreißen werden. Natürlich ist Sparen dringend angesagt
– doch im Sinne eines vernünftigen Wirtschaftens, eines vernünftigen Umgangs
mit den Ressourcen unseres Planeten, auch mit denen der Gesellschaft,
insbesondere was ihr Arbeits- und Denkvermögen betrifft. Diese Sparsamkeit hat
mit dem, was derzeit alles unter dieser Bezeichnung für Europa beschlossen
wurde, nichts zu tun. Sie setzt sich auch nicht spontan durch das Wirken der
Kräfte und Gesetze des vom Egoismus beherrschten Marktes durch, wie uns
vergangene Jahrzehnte, ja ein ganzes Jahrhundert gelehrt haben. Sie bedarf
einer ziel- und zweckgerichteten, zunehmend international orientierten
Wirtschafts- und Finanzpolitik – auch unter Nutzung eines regulierten Marktes
als Wirkungsfeld persönlicher Initiative und Verantwortung sowie als Messfeld
der ökonomischen Effektivität.
So verstandene Sparsamkeit bedarf eines ökonomischen
Umdenkens und der Reformierung des Geld- und Finanzsystems mit dem Ziel, eine
solche Verteilung des erzeugten Reichtums der Gesellschaft herbeizuführen, die
zu vernünftigem Wirtschaften führt und den sozialen Frieden in Europa und der
Welt sichert. Vordringlich sind dabei Maßnahmen, welche die leistungslose
Bereicherung durch Zinsen und Renditen in all ihren Erscheinungsformen
einschränken und schließlich ganz abschaffen. Denn der im Geld ausgedrückte
Wert als Sinnbild von Reichtum ist das Produkt von Arbeit für die Gesellschaft.
Er wird durch Arbeit geschaffen, entsteht weder aus sich selbst heraus (durch „natürliche“
Vermehrung) noch durch Verleih oder Spekulation. Die Behauptung, wir lebten in
einer Leistungsgesellschaft, ist eine große Zwecklüge. Denn in dieser heutigen Gesellschaft
sind die Privatvermögen der geleisteten Arbeit ihrer Besitzer umgekehrt
proportional. In Griechenland beispielsweise, heißt es, besitzen zwei Tausend
Familien 80 Prozent der griechischen Vermögenswerte. Früchte ihrer Arbeit?
Ihnen verordnen die EU-Oberen keine Spar- oder Zahlungsauflagen, obwohl es doch
vor allem ihr Staat war, der sich in ihrem Interesse und zum leistungslosen
Nutzen fremder Geldgeber verschuldete.
Darum wehrt sich das Volk Griechenlands gegen die
Sparauflagen der EU. Es hat die Aktion
der Demokratie wieder zum Leben erweckt. Seine Signale treffen vielerorts auf
offene Ohren. Die Proteste in aller Welt gegen die Bankenwelt zeigen es
eindrucksvoll. Auch Politiker und Banker weltweit sollten sie nicht überhören.
Der soziale Friede steht auf dem Spiel.
Buchveröffentlichungen
des Autors: „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“,
Projekte-Verlag, Halle 2005; „Gesellschaft im Irrgarten – Die Tragik nicht nur
linker Missverständnisse“, Nora-Verlag, Berlin 2009
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