Mittwoch, 29. Juni 2011

Wandel in einem Leben

Von Heerke Hummel
(Als Zeitzeugnis eingereicht zum Wettbewerb um den Zeitzeugenpreis 2011)

Kindheitserlebnisse
Ich wurde in Potsdam geboren, als die Welt im 20. Jahrhundert hoch schwanger ging mit Weltkrieg II.
Ich erlebte Weltkrieg II bei den Bombenangriffen auf Berlin im Luftschutzkeller in einem Vorort der Reichshauptstadt.
Ich wurde eingeschult wenige Monate nachdem Weltkrieg II zu wüten aufgehört und Deutschland kapituliert hatte.
Ich war entsetzt, als ich zum ersten Mal die Ruinen Berlins sah.
Ich hungerte und aß zuweilen beim Spielen im Freien die Früchte des Eichbaums, um das Hungergefühl zu  stillen.
Ich suchte mit meinen Geschwistern Pilze im Walde und tauschte sie beim Bäcker gegen etwas Brot ein.
Ich lernte auf der Straße als erstes russisches Wort „Chleb“, als Sowjetsoldaten uns bettelnden Kindern Stücken trockenen Brots vom Lastwagen zuwarfen.
Ich freute mich, als ich sah, wie in Berlin ein Wohnhaus wiedererrichtet wurde. Ich hatte  dazu gar keine Beziehung, aber es war ein Zeichen dafür, dass das Leben nun wieder besser würde.
Ich holte meine fünfzehn- und sechzehnjährigen Schwestern abends mit einem Wägelchen vom Bahnhof ab, wenn sie mit einem Rucksack voll Kartoffeln heimkamen, für die sie einen Tag lang auf einem von der sowjetischen Besatzungsmacht verwalteten Gut gearbeitet hatten.
Ich war acht Jahre alt, als mein Vater starb, und fror erbärmlich, mit kurzen Hosen und langen Strümpfen bekleidet, bei seiner Beerdigung im Winter 1948.
Ich schleppte im Sommer, schwitzend und von Mücken zerstochen, zusammen mit meiner Mutter und den Geschwistern Brennholz aus dem Wald auf einem wackeligen, zweirädrigen Karren über tief sandige Wege, wie man sie überall in Brandenburg findet, heran.
Ich erlebte die Gründung der DDR im Alter von zehn Jahren.
Ich litt unter der Spaltung Deutschlands, weil ich in den Ferien nicht zu meinen Großeltern nach Ostfriesland reisen konnte, und machte dafür die kommunistische Führung der DDR verantwortlich.
Ich hörte den Sender RIAS Berlin und jubelte, wenn in den Nachrichten über Erfolge der Amerikaner im Korea-Krieg gegen die dortigen Kommunisten berichtet wurde. Denn ich hatte Partei ergriffen.
Ich genoss die Köstlichkeiten aus amerikanischen Carepaketen, die wir aus Westberlin abholen konnten.
Ich glaubte, was mir in der Schule über Kapitalismus und Sozialismus erzählt wurde, bedenkend, dass meine Mutter, die unseren spärlichen Lebensunterhalt mit Putzen für geringen Lohn und gelegentliche Essensreste sicherte, unserem wohlhabenden Hauswirt für einen Zentner Kohlrüben den Schwarzmarktpreis von 30 Mark zahlen musste.
Ich erlebte einen acht Jahre älteren Freund, der, aus Westberlin gekommen, im Blauhemd der FDJ, doch im Auftrag der CIA (was ich damals nicht wusste), seine Umgebung terrorisierte und Fachkräfte durch gefälschte Informationen über ihre Bedrohung durch den Staatssicherheitsdienst zur Flucht nach Westberlin trieb.

Jugenderkenntnisse
Ich sah, wie Volkspolizisten eine Eisenbahnbrücke am Berliner Außenring über den „Kanal des Friedens“ Tag und Nacht bewachten, um sie vor Sabotageanschlägen zu schützen.
Ich lehnte das Regime der DDR ab, lernte aber zu schätzen, dass ich die Oberschule besuchen durfte und auf Grund der Mittellosigkeit meiner Mutter noch monatlich den Höchstsatz von 60 Mark „Erziehungsbeihilfe“ bekam.
Ich stellte mir die Frage, ob es nicht eine Gewissenspflicht sei, einen Staat, der „Lehren aus der Geschichte“ gezogen hatte, mit seiner Politik den Frieden anstrebte und das ihm Mögliche und Notwendige zur dauerhaften Verbesserung der Lebenslage seiner Bürger tat, grundsätzlich zu bejahen und in diesem Bemühen durch einen eigenen Leistungsbeitrag zu unterstützen, dafür vielleicht auch persönliche Verzichte und Beschränkungen in Kauf zu nehmen.
Ich antwortete nach dem Ungarn-Aufstand von 1956 in einer Klassenarbeit des Abiturjahrgangs auf die Frage „Was würden Sie im Falle eines ähnlichen Ereignisses in der DDR tun?“ ehrlich, dass ich mit den Menschen reden und sie zu überzeugen versuchen würde, dass sie auf einem Irrweg sind (erwartet wurde als Antwort die Bereitschaftserklärung zum freiwilligen Dienst in der Volksarmee, denn es gab noch keine Wehrpflicht). Ich bekam die Note „Gut“ (Zwei), während einige Schüler, die ihre Bereitschaft unter etlichen  Vorbehalten erklärt hatten, für die ihnen unterstellte Unehrlichkeit mit einer Vier benotet wurden.
Ich bewarb mich nach dem Abitur bei der Handelsmarine der DDR um eine Lehrstelle als Matrose, weil ich Kapitän werden wollte, bekam aber nur ein Angebot für die Hochseefischerei, wo Nachwuchs gebraucht wurde; ich nahm das Angebot an, denn eine Flucht in den Westen nach Hamburg kam für mich schon nicht mehr in Frage, weil ich mich gegenüber meinem Heimatvolk  verpflichtet fühlte, das Meinige zu tun, damit das Leben besser und die allgemeinen Umstände erträglicher würden; einfach wegzulaufen hielt ich für egoistisch und feige.
Ich studierte nach der Matrosenprüfung Volkswirtschaft an der Humboldt-Universität, weil ich mich entscheiden und mir Klarheit verschaffen wollte  über  die Theorie vom Sozialismus.


Mannesbewusstsein
Ich ließ mich von der Logik der Marxschen ökonomischen Theorie überzeugen und nahm das Angebot des Instituts für Politische Ökonomie an, als Wissenschaftlicher Assistent eine Hochschullehrerlaufbahn zu beginnen.
Ich entschied mich für den Lehrstuhl Politische Ökonomie des Sozialismus, weil mir die in dieser Disziplin gelehrte Theorie unlogisch und erneuerungsbedürftig zu sein schien.
Ich fand einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Theorie von Karl Marx und der gelehrten Sozialismus-Theorie, beruhend auf einer theoretischen Fehlinterpretation der geübten Praxis des Realsozialismus.
Ich beharrte in meinem Dissertationsentwurf auf meiner von der Lehrmeinung abweichenden theoretischen Basis - mit der Folge, dass es nicht zur Verteidigung kam und ich meine Laufbahn abbrach.
Ich verfasste außerhalb meiner beruflichen Tätigkeit als Redakteur einer Wirtschaftszeitung einen „Grundriss einer ökonomischen Theorie des Sozialismus“, der die Theorie im Unterschied zum offiziellen Lehrgebäude entpolitisierte und dieses inhaltlich über den Haufen warf. Von daher hatte mein Werk keine Chance auf Akzeptanz - weder durch die Parteiführung der SED noch durch die ihr hörige Wissenschaftlergemeinde. So richtete sich meine Zuversicht auf „bessere Zeiten“.
Ich schrieb „Eingaben“ an staatliche Organe und an die Parteiführung der SED, wenn mir dann und wann wegen immer neuer Ärgernisse „der Kragen platzte“.
Ich hatte, als die Berliner Mauer zu Fall kam, über Jahrzehnte der Spaltung Deutschlands ungezählte Male mit Tränen in den Augen am Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße gestanden, wenn ich meine aus der BRD eingereisten Schwestern mit ihren Kindern wieder verabschiedete. Doch verantwortlich für die deutsch-deutsche Misere und deren unmenschliche Folgen war in meinen Augen die Regierung der BRD, ja der ganze Westblock mit dem von ihm initiierten antikommunistischen Kalten Krieg der ökonomischen und politischen Erpressung des Ostens.
Ich verfolgte den Sturz des DDR-Regimes durch die Volksmasse mit gemischten Gefühlen, denn mir war klar, dass er in den staatlichen Anschluss an die Bundesrepublik münden würde, was ich für ein sozialökonomisches Desaster hielt.

Altersreife
Ich fand mich mit dem kurzsichtigen Willen des Volkes ab, denkend „des Menschen Wille ist sein Himmelreich“, und nutzte die neuen Gegebenheiten (freie Zeit durch Arbeitslosigkeit und Publikationsfreiheit) auf meine Art: Ich widmete mich, als Ende der 1990er Jahre das Volk der (Ost-) Deutschen  sich dem Spekulationsrausch und dem Reisefieber hingab, wieder meinen theoretischen Studien und schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“, dessen Veröffentlichung ich selbst finanzierte, dafür auf den umfangreicheren Gebrauch meiner neu gewonnenen Reisefreiheit verzichtend.
Ich entdeckte während meiner Arbeit an dem Buch eine große Ironie der Geschichte: US-Präsident R. Nixon hatte in der Krise von 1971 mit dem Bruch des Abkommens von Bretton Woods und der Trennung des US-Dollars vom Goldstandard vollzogen, was für Karl Marx eine Aufgabe der proletarischen Weltrevolution hatte sein sollen, nämlich die ökonomische (nicht die juristische!) Verwandlung der Produktionsmittel aus privatem in gesellschaftliches Eigentum und damit die des Geldes aus einer werthaltigen Ware in eine Bescheinigung für geleistete gesellschaftliche Arbeit.
Ich war erstaunt, dass die Gesellschaftswissenschaft (nicht nur des Westens, sondern - und vor allem - auch die des Ostens!) diesen grundlegenden inneren gesellschaftlichen Wandel nicht begriffen hatte und die Welt noch weitere zwanzig Jahre lang einen erbitterten „Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus“ erlebte, um dann zu glauben, ersterer habe Letzteren 1991 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks besiegt.
Ich hatte erkannt, dass die Weltgesellschaft seit der russischen Oktoberrevolution auf Grund unterschiedlicher Ausgangsbedingungen nur verschiedene Entwicklungswege ins 21. Jahrhundert beschritten hatte, die am Ende des 19. Jahrhunderts wieder zusammenführten.
Ich fand meine Theorie vom Ende alles Privaten im  Produktions- und Finanzsystem dieser Gesellschaft spätestens dann für jedermann sichtbar bestätigt, als auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008/09 die Industriestaaten der Welt mit Billionen Dollars und Euros den allgemeinen Zusammenbruch der Weltwirtschaft bzw. ihres Finanzsystems verhinderten.
Ich beobachte heute auch den Sturz arabischer Herrscher – wie seinerzeit den osteuropäischer Führungen – mit gemischten Gefühlen, denn zu befürchten ist, dass nur wenige der Revoltierenden von ihren mutigen Aktionen den erwarteten Nutzen haben und ihre Hoffnungen erfüllt sehen werden.
Ich bezweifle, dass die Gesellschaft der Industrieländer rasch ihr Verständnis vom Wirtschaften verändern und zu einer solidarischen Lebens-, Produktions- und Verteilungs- bzw. Austauschweise finden wird. Möglicherweise trägt aber der Umbruch im Morgenland mittel- oder langfristig zu einemUmdenken und neuen Wirtschaften bei, indem die nationale und regionale Souveränität dort so erstarkt, dass dem Abendland Zugeständnisse im ökonomischen Verkehr abgerungen werden können. Das dürfte dann Auswirkungen auf die innere ökonomische Struktur des Westens, auf dessen verfügbaren Reichtum und die Art und Weise seiner Verteilung  haben.

Fazit
Ich stelle mir im Ergebnis solcher Überlegungen immer häufiger die Frage: Was bedeutet Demokratie, jenes Phantom, das heute mehr denn je die Geister beherrscht und die Menschen bewegt?
Ich denke, dass Demokratie zu einem Kampfbegriff verkommen ist, der vor allem von denen ins Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geführt wird, die an die Macht streben, um zu herrschen. Die Volksmasse wird mit Regelmäßigkeit enttäuscht, wenn sie nach dem Umsturz erkennen muss, dass sie vom Regen in die Traufe gekommen ist.
Ich halte es für einen Trugschluss bzw. für eine betrügerische Behauptung, Demokratie könne ein über den historischen Moment des Kampfes, der tätigen, bewusst teilnehmenden Aktion hinausgehender gesellschaftlicher Zustand von Gleichheit bzw. Volksherrschaft sein.
Ich bin überzeugt, dass es länger dauernde Gleichheit nicht gibt und nicht geben kann, weil die Menschen – wie alle Lebewesen – ungleich sind.
Ich habe erkannt, dass eine Gesellschaft grundsätzlich einer Führung bedarf und es von daher immer Führer und Geführte, Herrscher und Beherrschte – mit welchen Mitteln und Methoden auch immer - geben wird.
Ich sage, dass die Frage nur darin bestehen kann, wie viel Ungleichheit, Herrschaft einerseits und Unterordnung andererseits, eine Gesellschaft benötigt bzw. verträgt, um stabil zu sein, sich zu erhalten, damit sie die Herausforderungen ihrer Umwelt (im weitesten Sinne dieses Begriffs!) bestehen kann.
Ich suche in den gesellschaftlichen Erscheinungen die Ursachen sowohl ihres Entstehens als auch ihres notwendigen Vergehens. In deren Wechselwirkung sehe ich die Triebkraft gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Entwicklung.
Ich denke, dass eine Gesellschaft umso labiler und gefährdeter ist, je starrer sie -infolge mangelnder Reformbereitschaft - der Dynamik ihrer inneren Bedingungen begegnet.
Ich schlussfolgere aus der Krise, in der sich die Menschheit bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts, aber seit Beginn des 21. Jahrhunderts akuter denn je und in der Vielgestaltigkeit von Wirtschafts-, Finanz-, Technik- und Umweltkrise gleichzeitig befindet, dass die Weltgemeinschaft einer Führung, einer koordinierten, harmonischen Entwicklung im Interesse und zum Wohle aller Menschen bedarf.
Ich betone: Solche Führung darf nicht aus dem Kampf aller gegen alle um Durchsetzung partieller Interessen im Wettbewerb um Marktanteile und Kapitalverwertung (die ohnehin nur noch imaginär ist) resultieren,  sondern muss sich auf wissenschaftliche Einsicht in die betreffende Gesamtmaterie stützen und aus dem Gesamtinteresse der Gesellschaft als große Gemeinschaft an Harmonie und an einem gemeinsamen Überleben ableiten.
Ich betrachte als ein Hauptproblem der Ökonomik am Beginn des 21. Jahrhunderts, dass in der Politik, in der Wirtschaft und im Finanzwesen nur noch gerechnet und kaum noch gedacht wird; letztlich deshalb, weil nicht mehr das Leben und die dazu notwendigen Dinge und Aktionen interessieren, sondern nur noch – auf Grund einer falschen Vorstellung von ihm – das Geld und seine Vermehrung.
Ich sehe, auf mein Leben zurück blickend, die Umstände meines Lebens, aber auch mich selbst und mein Bewusstsein, in dauernder Veränderung begriffen. Und doch haben mich Hunger und Elend in der Welt ständig begleitet – als eigenes Leid oder als das Leid anderer, dem ich nichts anderes entgegen zu setzen habe als meine Mitwirkung an der Aufklärung. Denn neues gesellschaftliches Handeln setzt neues gesellschaftliches Denken voraus.
Ich verehre Heinrich von Kleist, von dem ich bereits als Schüler lernte: „Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.“ Solche Gewissheit aus dem „Zerbrochenen Krug“ überwindet Pessimismus, schützt vor Überraschungen, erzeugt Gelassenheit auch gegenüber problematischen gesellschaftlichen Zuständen. Sie macht mich heute wie ehemals zuversichtlich, dass auch  der gesellschaftliche Wahnsinn der Gegenwart nicht von Dauer sein wird.

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