Samstag, 5. Februar 2011

Deutschland, Europa und die Welt

Deutschland, Europa und die Welt
Von Heerke Hummel
Wer sich als Deutscher mit seiner Zukunft befassen will, und mit seiner Vergangenheit, der muss über die Staatsgrenzen hinweg auf Europa und darüber hinaus auf die Welt schauen. Und dies heute mehr als noch vor einigen Jahrzehnten. Einer der großen Deutschen des 20. Jahrhunderts tat es sein Leben lang mit aller Aufmerksamkeit, sowohl im Dienst für das Vaterland als auch in seiner rückschauenden Lebensbilanz als Bundeskanzler a.D.[1]  Doch wenn Helmut Schmidt eigene Erfahrungen wie auch Geschichte von Jahrhunderten erinnert, will er nicht nur erzählen, sondern als Überneunzigjähriger, wenn auch nicht mehr selbst in die Politik eingreifen, so doch mit der Vermittlung seiner Erkenntnisse immer noch die Gestaltung der Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt im 21. Jahrhundert durch die Politik und jeden Bürger mit beeinflussen. Sicherung des Friedens, Freiheit und Wohlfahrt für alle und insofern die Würde des Menschen sind ihm dabei die wichtigsten Ziele, Vernunft und Toleranz entscheidende Voraussetzungen und Prüfung des eigenen Gewissens eine vage Garantie für den Erfolg. Bei aller geübten Kritik an heutigen Erscheinungen in der Gesellschaft ist Schmidt im Wesentlichen optimistisch: Eine bessere, sicherere Welt ist möglich, Deutschland und Europa können und müssen im eigenen Interesse ihren Beitrag dazu leisten. Schmidt erörtert dies alles – und vieles mehr - sehr konkret.
Wirtschaft außer Rand und Band
Vordergründig sind seine ökonomischen Betrachtungen (worauf hier speziell eingegangen werden soll), denn Politiker brauchen seiner Überzeugung nach ökonomischen Überblick. Dabei vermittelt er Erkenntnisse aus seinen eigenen Erfahrungen und aus seinen überaus zahlreichen, teils engen freundschaftlichen Kontakten zu Größen aus der Wirtschaft, dem Finanzwesen und der Politik im Inland, in Europa und weltweit. Hermann Josef Abs und dessen Nachfolger an der Spitze der Deutschen Bank Alfred Herrhausen, ferner Karl Klasen an der Spitze der Bundesbank, US- Präsident Nixons Berater Paul Volcker[2] und Alan Greenspan an der Spitze der amerikanischen Notenbank Fed (Federal Reserve System), Horst Köhler an der Spitze des Internationalen Währungsfonds (IMF – International Monetary Fund) sowie der Direktor der chinesischen Volksbank Zhou Xiaochuan (neben dem herausragenden chinesischen Strategen und Reformer Deng Xiaoping) gehörten zu Schmidts wichtigsten finanzökonomischen Gesprächspartnern. Allerdings, schreibt er, sei sein Vertrauen in die Klugheit von Bankvorständen, mit denen er in dem Kapitel „Raubtierkapitalismus“ hart ins Gericht geht,  inzwischen einer erheblichen Skepsis gewichen. Denn: Zunächst im angelsächsischen Raum habe sich „ein dem Raubrittertum vergleichbarer Pseudo-Adel des ‚Investmentbanking‘ entwickelt, der sich zu Lasten der Gesellschaft und des Staates mit enormen Beträgen bereichert.“ Wegen der „ansteckenden Habgier“ und angesichts des Streits in Deutschland über einen Mindestlohn scheint dem Bundeskanzler a.D. „eine Diskussion über eine obere Begrenzung der Bezüge für Spitzenmanager nicht abwegig“, die zu definieren wäre „als ein Vielfaches zum Beispiel der Bezüge eines Bundeskanzlers oder auch des Durchschnitts aller Arbeitnehmer.“ Dieses Problems sollten sich seiner Meinung nach die Sachverständigen der Wirtschaftswissenschaften „öffentlich hörbar und lesbar“ annehmen.
Dieser Wunsch H. Schmidts dürfte sich wohl nur erfüllen, wenn die Wirtschaftswissenschaft in der Lage und bereit ist, gründlich umzudenken, also ihr ganzes Theoriegebäude von den Fundamenten her umzugestalten und das Geld nicht mehr als tatsächliches Wertäquivalent einer verkauften Ware, echten sachlichen Reichtum zu betrachten, sondern lediglich als gesellschaftliche Bescheinigung für geleistete Arbeit und damit Anspruchszertifikat auf Ergebnisse gesellschaftlicher Arbeit.[3] (Wachstum von Geldbeträgen kann daher weder Ziel noch Kriterium erfolgreichen Wirtschaftens sein.) Doch dazu müsste sie mit jahrhundertealten, auf  Erkenntnisse des schottischen Ökonomen Adam Smith zurückgehenden Dogmen brechen. Dieser hatte die Gesetze und die regulierende Funktion des Marktes entdeckt. Dass sich die Welt inzwischen in vieler Hinsicht gründlich verändert hat, weiß heute jeder. Dennoch hat die Wirtschaftswissenschaft den Wandel im Wesen der Ökonomik nicht verstanden, der jahrzehntelang schleichend vor sich ging, um 1971 mit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch US-Präsident R. Nixon abgeschlossen zu werden. Es war die Abkopplung des Geldes vom Edelmetall (Gold). Obwohl die ganze Ökonomenzunft einen solchen Schritt für unmöglich gehalten hatte, ging ihr bei seinem endgültigen Vollzug noch immer kein Licht auf. „Der Dollar hängt in der Luft“ war ihr einziger Kommentar, nachdem der revolutionierende präsidiale Akt verkündet war. Welche systemtheoretische Bedeutung er hatte, diese Frage scheint niemandem in den Sinn gekommen zu sein. Wie auch, wo man sich doch schon lange nur noch für die praktischen Fragen des Funktionierens interessiert und diese vor allem mittels der Mathematik zu lösen versucht hatte! Die Systemfrage zu stellen hatte man schon lange den Marxisten überlassen, die aber ihrerseits von den eigenen Dogmen nicht loskamen. Und der Schein der Realität machte es den Ideologen – den neoliberalen wie den marxistischen – leicht, an den liebgewonnenen Glaubenssätzen festzuhalten. Denn einerseits blieb der US-Dollar (es waren ja sogar dieselben Scheine wie zuvor) die international geachtete und begehrte Währung, daher auch das wichtigste Weltgeld, und andererseits ließ die ausufernde private Bereicherung die jahrhundertealte „kapitalistische Ausbeutung“ als geradezu auf die Spitze getrieben erscheinen. Dass aber die Ablösung des Geldes vom sachlichen Wert des Goldes eine qualitative Veränderung herbeigeführt und alle Schranken der Verantwortung, der Moral und des Gewissens beseitigt und die Bremsen für Finanzmanipulationen und Spekulationen gelöst hatte, zeigte sich erst nach und nach und wurde von den liberalen Theoretikern auch nur als praktisches Phänomen wahrgenommen, nachdem tatkräftiger amerikanischer Pioniergeist ganz neue leistungslose Selbstbereicherungspraktiken zu erfinden begonnen hatte, die zwar formaljuristisch legal sind, aber, zumindest in ihren Details, auch von Finanzpolitikern kaum noch verstanden und durchschaut werden. „Kaum ein Finanzminister“, so H. Schmidt, „kann die mit deren (der Hedge-Fonds – H.H.) spekulativen Geschäften verbundenen Risiken überblicken … noch weniger können dies ihre Regierungschefs oder ihre gesetzgebenden Parlamente. Die von Spekulationsgeschäften ausgehenden Gefahren für die Weltwirtschaft sollten keineswegs für geringer gehalten werden als die politischen Gefahren von Kriegen. Die Weltwirtschaft ist vom Verhalten mächtiger privater Finanzinstitute und ihrer Manager nicht weniger abhängig als vom politischen Verhalten der einflussreichen Staaten und deren Regierungen.“ Hierin eine hochgradige Vergesellschaftung der Wirtschaft und insbesondere des Geldes zu erkennen, sollte man zwar nicht unbedingt von dem diplomierten Volkswirt H. Schmitt erwarten, auch wenn der gern die praktische Vernunft anruft, wohl aber unbedingt von Wissenschaftlern.
Was ist da noch privat?
Für Schmidt ist „die unangemessene Selbstbereicherung einiger Manager“ eine unerfreuliche Begleiterscheinung und „Teil einer auf privatem Eigentum und privater Initiative gegründeten Marktwirtschaft“. Ist aber die  eben von Schmidt selbst beschriebene ökonomische und politische Macht dieser Leute, ist dies alles - dem Wesen, der Sache nach - wirklich noch ihre Privatsache, oder gehört das alles, weil es, wie Schmidt ebenfalls deutlich macht, in höchstem Maße die gesamte Gesellschaft, die Menschheit betrifft, nicht doch unter öffentliche Regelung und Kontrolle? Es hat doch, der Logik der ökonomischen Beziehungen nach, jeglichen privaten Charakter verloren und, den Maßstäben nach, alle Grenzen des Privaten weit hinter sich gelassen! Es ist öffentliche Angelegenheit geworden, Sache der Weltöffentlichkeit sogar. Nur noch das Gesetz erhebt es zur Privatangelegenheit. Und darum muss das Gesetz verändert, den sachlichen Gegebenheiten der Realität angepasst werden! Es muss, vor allem was Wirtschaft, Geld und Finanzen betrifft, die Rechte und Pflichten der Bürger sowohl in den tatsächlich noch privaten als auch in den öffentlichen Angelegenheiten (und die Wirtschaft im weitesten Sinne ist zu einer solchen geworden) neu definieren!
Zu solcher Zuspitzung des Problems und anstehender Aufgaben ist H. Schmidt auch „außer Dienst“ nicht bereit bzw. nicht in der Lage. Zwar macht er in seinem Buch deutlich, dass der gewaltige technische Fortschritt im 20. Jahrhundert zu einem bedeutenden Wandel in den Maßstäben sowie in der Art und Weise von Produktion und Handel, bei den Instrumenten und Mechanismen von Austausch, Verteilung und Konsumtion führte und damit nicht zuletzt gesellschaftliche und politische Veränderungen in der Welt bewirkte; auch charakterisiert er den amerikanischen Bruch des Abkommens von Bretton Woods mit dem daraus folgenden Ende der Goldbezogenheit des Geldes als weltwirtschaftlichen Umbruch, doch kommen dem klassisch ausgebildeten, nach eigener Aussage gern der praktischen Vernunft folgenden Volkswirt weitergehende Schlussfolgerungen nicht in den Sinn, insbesondere die Frage des Privateigentums betreffend. Nichtsdestotrotz hat er aber die große US-amerikanische Verantwortung für das weltwirtschaftliche Chaos erkannt und beschrieben, das daraus entstand, dass die USA seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ihre ökonomische und finanzpolitische Vormachtstellung in der (westlichen) Welt rücksichtslos auszunutzen, um ihre imperialistische Expansionspolitik durch Dollaremissionen sowie wachsende Staatsverschuldung und Defizite in den Handels- und Leistungsbilanzen auf  Kosten ihrer Partner zu finanzieren. Dass allerdings diese Partner durch ihr Mitmachen (sie haben ja gut daran verdient, wenn auch auf Kredit!) nicht weniger „schuldig“ geworden sind, sollte nicht vergessen werden! Denn es zeigt: „Das System“ funktioniert schon lange nicht mehr, und seine Krisen werden mit den Jahren immer katastrophaler.
Plädoyer für Euro und Europa
Schmidts Fazit: Im 21. Jahrhundert werden sich „einige neue Herausforderungen ergeben, die wir im vorigen Jahrhundert noch nicht gekannt oder bestenfalls nur geahnt haben. … Deutschland kann und muss sich an der Lösung der Probleme beteiligen. Denn unsere Wirtschaft ist groß und leistungsfähig. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir mit 80 Millionen Menschen nur gut ein Prozent der Menschheit ausmachen und dass dieser Anteil noch sinken wird. … Wir hoffen auf die Festigung der Europäischen Union und auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik …“ Ein Glück war es in den Augen des deutschen Patrioten und glühenden Europäers, „dass der Europäische Rat 1992 das Konzept der gemeinsamen Währung beschlossen und den Weg dahin vorgezeichnet hat, bevor die ungewöhnliche, nahezu plötzliche Erweiterung von 12 auf heute 27 Mitgliedsstaaten stattfand. Heute würde die Schaffung einer gemeinsamen Währung in vielen Staaten der EU auf enorme Schwierigkeiten stoßen. Inzwischen ist der Euro in seiner inneren Kaufkraft (d.h. in der Inflationsrate) stabiler als die anderen großen Währungen. In seiner äußeren Kaufkraft (d.h. in seinem Wechselkurs) ist der Euro sehr viel stabiler als die beiden anderen großen Währungen Dollar und Renminbi oder auch Yen, Rubel und Sterling. Wenn wir bei den kleinen nationalen Währungen Franc, Lira, DM usw. geblieben wären, hätten internationale Hedge-Fonds und dergleichen mit unserem Geld rücksichtslos spekulieren können. Ohne den Euro gäbe es auch innerhalb des gemeinsamen Marktes gefährliche Spekulationen auf Wechselkursveränderungen zwischen 27 Währungen.“ Deshalb ist H. Schmidt „stolz darauf“, gemeinsam mit dem damaligen französischen Präsidenten Giscard d’Estaing während ihrer Amtszeit „und später als private Bürger die heutige Währungsunion vorbereitet zu haben.“
Der US-Dollar, meint Schmidt, werde weiter an Wert und internationalem Gewicht verlieren. Gleichzeitig müsse angesichts fehlender international funktionierender Aufsicht über Banken, Fonds und deren zunehmend undurchsichtiger Finanzierungsinstrumente bei anhaltender Globalisierung weiterhin mit der Möglichkeit von globalen Währungs- und Finanzkrisen gerechnet werden.
Umdenken, aber gründlich!
Darin ist ihm absolut zuzustimmen. Dennoch ist der weit blickende Analyst mit lebenslangen Erfahrungen ziemlich kurzsichtig, wenn er denkt, eine bessere Aufsicht über die Banken würde genügen, um das Weltwährungs- und
 Weltfinanzsystem in Ordnung zu bringen. Soll das Übel an der Wurzel gepackt werden, so bedarf es dazu eines gründlichen ökonomischen Umdenkens, das mehr umfasst als die von Schmidt geforderte stärkere Hinwendung zu Bildung und Wissenschaft als Fundamente für den ökonomischen Erfolg im Konkurrenzkampf auf den Weltmärkten. Es bedarf anderer Grundsätze und Ziele des Wirtschaftens, anderer Regeln und Instrumente, solcher, die das Wohl der Gesamtheit ansteuern und nicht dem maximalen Eigennutz einer Minderheit von Privilegierten dienen, ausgedrückt in wachsenden Finanzbergen, denen auf der anderen Seite der Gesamtbilanz entsprechende Schuldenberge gegenüberstehen. Regeln der Solidarität einer Gemeinschaft, nicht des Kampfes aller gegen alle! (Was durchaus nicht ausschließt, dass der Einzelne ein hohes Maß an persönlicher Eigenverantwortung sowie Entscheidungs- und Entfaltungsraum genießen kann.) Helmut Schmidt wirbt in seinem Buch sehr für die Kompromissbereitschaft von Entscheidungsträgern und mahnt, dabei auf das eigene Gewissen als der letzten Instanz zu hören. Auch hier, bei der Gestaltung einer neuen Weltwirtschaftsordnung für das 21. Jahrhundert, wäre das (neben der notwendigen wissenschaftlichen Einsicht in ökonomische Zusammenhänge) dringend geboten.
Immerhin weiß der anerkannte Staatsmann a.D. aus eigener Erfahrung, dass „in den meisten industrialisierten Staaten  Politik und Wirtschaft viel stärker ineinander verzahnt (sind), als die ökonomischen Theorien erkennen und in Formeln einfangen konnten. Ohnehin ist an vielen Universitäten weltweit die Mathematisierung der ökonomischen Wissenschaft zu weit gegangen. In der alltäglichen Wirtschafts- und Finanzpolitik spielen vielerlei externe Faktoren eine Rolle, die von den Ökonomen nicht vorhergesehen und schon gar nicht eingerechnet werden können – seien es politische Ereignisse, ökonomische Fehlentwicklungen in anderen Ländern oder Psychosen an der Börse.“ Und er fährt dann in seinen Überlegungen fort: „Während es unserer politischen Klasse schwerfällt, unsere internationale Abhängigkeit zu verstehen und daraus die gebotenen Konsequenzen zu ziehen, bieten die überholten Theorien unserer Wirtschaftswissenschaften nur geringe Hilfen. In dieser Lage bleibt den handelnden Politikern oft nicht viel mehr als ihre praktische Vernunft. Vernunft und Erfahrung sagen ihnen: Ohne wirtschaftliches Wachstum laufen wir Gefahr, dass uns die unvermeidlichen Verteilungskämpfe politisch lähmen, ohne eine hohe Beschäftigungsrate können wir die nötigen Anpassungen und Veränderungen unserer alternden Gesellschaft nicht bewältigen.“

Geprägt vom vorigen Jahrhundert
Mit solchen Äußerungen markiert H. Schmidt die Grenzen seines Denkens, so weitsichtig er, gemessen an seiner Generation und seinem Berufsstand, auch ist. Das 20. Jahrhundert spricht daraus (wie könnte es anders sein?), mit seiner ganzen Zerrissenheit in Ost und West, in Arm und Reich, mit seinen Kämpfen um Macht und Verteilung von Ressourcen. Einer, der im Kalten Krieg die Politik der einen Seite maßgeblich mitbestimmte und verfocht, kann sich wohl kaum hoch über die ringenden Parteien erheben, um – wenn auch nachträglich – die Geschichte aus höherer Perspektive als Wechselspiel unzähliger Ursachen und Wirkungen, auch in den einzelnen Erscheinungen, zu beurteilen und dabei die Einzelheiten und Besonderheiten auf ihren allgemeinen, gemeinsamen Wesenskern zu reduzieren. Denn dann würde sich zeigen, dass seit hundert Jahren – infolge verschiedenster Einsichten ins Notwendige und Verständnisse vom Möglichen, auch divergierender Interessen – versucht wurde, unterschiedliche Wege hin zu einer Weltordnung zu gehen, deren Notwendigkeit aus der zunehmenden weltweiten ökonomischen Verflechtung auf Grund des technischen Fortschritts resultierte. Immerhin ist der überzeugte
(Sozial-)Demokrat Schmidt zu der späten und auch eingeschränkten, aber nichtsdestoweniger bemerkenswerten Einsicht gekommen: „Die Mehrzahl der Entwicklungsländer in Afrika, Asien (einschließlich des Mittleren Ostens) und Lateinamerika ist einstweilen nur autoritär regierbar – bestenfalls von einem vom Volk gewählten diktatorischen Präsidenten. Viele von ihnen stützen sich auf eine ihnen ergebene Armee. Solche Einsichten kann man allerdings kaum im Studium an einer amerikanischen oder europäischen Universität oder durch westliche Medien gewinnen; dazu muss man reisen und sich an Ort und Stelle persönlich ein Bild machen.“
Sieben Jahrzehnte lang war die Welt in zwei große Lager gespalten, die sich jeweils durch die andere Seite in ihrer Existenz bedroht fühlten und sich mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpften: ideologisch, ökonomisch und militärisch, bis zur irrational verantwortungslosen, das gesamte Leben auf der Erde gefährdenden atomaren Rüstung. Für Helmut Schmidt, trotz seines Verständnisses für einige (westliche) Diktatoren noch immer durch die Brille des Antikommunismus schauend, scheint das alles nur eine Bedrohung des Westens durch die Sowjetunion gewesen zu sein – obwohl er selbst noch zwanzig Jahre nach dem Zerfall des Sowjetblocks und dem Ende jeglicher militärischer Bedrohung des Westens von „hegemonial und imperialistisch gesinnte(n) Kräfte(n) in der amerikanischen politischen Klasse“ spricht. Und so lässt er keine Gelegenheit für Seitenhiebe auf  „den Kommunismus“ (was ist das eigentlich?) und „die Kommunisten“ aus. Dennoch können auch diese oder die ebenfalls gefehmten „LINKEN“ das Buch sicherlich mit Gewinn lesen, weil es sehr vielseitige Einblicke in die Erfahrungen und in das Denken eines bedeutenden deutschen Bundeskanzlers gibt, dessen Ansichten man nicht immer teilen muss, dessen Offenheit, Ehrlichkeit und moralischen Grundsätze aber bemerkenswert sind. Und wer im 21. Jahrhundert eine Weltordnung, nicht des (ökonomischen und politischen) Kampfes  aller gegen alle oder der Staaten, Regionen und Kulturen gegeneinander, sondern der Kooperation und Solidarität anstrebt, wird beispielsweise ohne Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt seines Gegenübers, ohne ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft, wie Helmut Schmidt sie vielfach anmahnt, nicht erfolgreich sein können. Vielleicht ist ja gerade wegen solchen allgemeinen Mangels die Geschichte des vorigen Jahrhunderts so ungeheuer tragisch verlaufen.

Helmut Schmidt, Ausser Dienst. Eine Bilanz, Siedler Verlag, München 2008, aktualisierte Lizenzausgabe 2010 bei Weltbild


[1] Helmut Schmidt, Ausser Dienst. Eine Bilanz, Siedler Verlag, München 2008, aktualisierte Lizenzausgabe 2010 bei Weltbild
[2] P. Volcker riet Nixon 1971 zur Kündigung des Abkommens von Bretton Woods und damit zur völligen Neugestaltung des internationalen Währungssystems, besser: zur Auflösung der alten Ordnung, denn von „Gestaltung“ einer neuen konnte keine Rede sein.
[3] Vgl.: H. Hummel, Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, Projekte-Verlag, Halle 2005

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