Sonntag, 24. Oktober 2010

Motiv der Kanzlerin?

(Kommentar zu „Merkel gerät zwischen die Fronten“, „Handelsblatt“, 22.10.2010)

Ihren Kritikern zum Trotz: Ein Verzicht auf automatische Sanktionen für Haushaltssünder würde das Primat der Politik erhalten, um zu verhindern, dass sich die europäische Gemeinschaft oder einzelne Staaten infolge eines Sanktionsautomatismus‘ kaputtsparen. Wahrscheinlich braucht Europa eben doch eine Wirtschafts- und Finanzregierung zur Harmonisierung von Produktion und Verbrauch in der gesamten EU. 
Der Markt, von egoistischer Geld- und Profitgier getrieben, hat es zwei Jahrhunderte lang nicht vermocht, Produktion und Verbrauch krisenfrei in Übereinstimmung zu bringen und die gesellschaftliche Reproduktion im weitesten Sinne zu gewährleisten. Markt, im Sinne eigenverantwortlichen Handelns von Erzeugern und Verbrauchern im direkten wechselseitigen Agieren, muss sein. Doch er bedarf der ordnenden, auch umverteilenden, „politischen“ Einflussnahme. Der Staatshaushalt ist dabei bislang von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Und solange der Staat das dazu notwendige Geld auf Grund gegebener politischer Kräfteverhältnisse nicht denen nehmen kann, die es im Überfluss besitzen, muss er sich verschulden. Angesichts des ungeheuren ökonomischen Desasters (infolge neoliberalen Irrglaubens und Irrwegs), an dem die Welt gerade vorbeischrammte (nur dank staatlicher Billionen-Finanzspritzen), ist die verbreitete Forderung nach dem Sanktionsautomatismus Zeichen finsterster ökonomischer Blindheit und Taubheit. Um das Ziel der Merkel-Kritiker zu erreichen und den Euro wirklich „hart“ zu machen, bedarf es keines Automatismus‘ bei der Sanktionierung von Haushaltsdefiziten, sondern staatlicher Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene, wozu auch die nötige Einsicht in den objektiven Reformbedarf für das europäische (und weltweite) Wirtschafts- und Finanzsystem gehört. An dieser Stelle ist allerdings nicht nur und nicht einmal in erster Linie die Politik gefordert, sondern zu allererst die ökonomische Wissenschaft. Sie muss sich von jahrhundertealten Dogmen liberaler Wirtschaftstheorie trennen und ein neues, den veränderten Verhältnissen in der ökonomischen Wirklichkeit entsprechendes Bewusstsein der Gesellschaft von ihren heutigen ökonomischen Beziehungen kreieren.

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