Freitag, 22. Oktober 2010

Linkes Denken - und wie nun weiter?

Verändert man den Standpunkt der Betrachtung historischer Prozesse, so können sich ganz unerwartete Sichtweisen und Bilder von geschichtlichen Abläufen ergeben. Der Autor nimmt bewusst eine sehr grobe Verallgemeinerung vor, um sich auf Wesentliches zu konzentrieren und dies schärfer erkennbar zu machen. Seine Schlussfolgerung: Die gesellschaftliche Linke braucht vor allem ein neues theoretisches Konzept zur Erklärung der heutigen Produktionsweise und damit zur Überwindung von deren Gebrechen.


Die Partei DIE LINKE versteht sich als Teil der sozialistischen Bewegung der Welt. Diese Bewegung entstand im 19. Jahrhundert als eine politische Bewegung der Arbeiterschaft zur Durchsetzung ihrer sozialen Interessen in der Auseinandersetzung mit dem Bürgertum als die Produktionsmittel besitzende und die Produktion beherrschende Klasse, welche auch die ganze sogenannte bürgerliche Gesellschaft dominierte. Ihr theoretisches Rüstzeug für diese Auseinandersetzung zog die Arbeiterbewegung – weltweit - in der Hauptsache aus dem Ideengut von Karl Marx und Friedrich Engels mit deren Anspruch, den Sozialismus von einer Utopie zur Wissenschaft gemacht zu haben. Dieser Anspruch leitete sich aus der Überzeugung ab,
  • mit der Marxschen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise eine „historische Mission der Arbeiterklasse“ zur Befreiung der ganzen Menschheit von Ausbeutung theoretisch begründet und
  • mit der Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ auch den logisch begründeten Weg in die neue Gesellschaft gewiesen zu haben.
Was Marx und Engels dachten war die Konsequenz ihrer Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit, insbesondere der ökonomischen Bedingungen. Das kapitalistische Privateigentum – so schien es zumindest damals – reproduzierte sich fortwährend selbst, so dass eine Diktatur des Proletariats zur Vergesellschaftung des Eigentums an den Produktionsmitteln sich als der einzig mögliche und notwendige Weg in die neue, ausbeutungsfreie Gesellschaft darstellte.

Seinerzeit noch nicht – jedenfalls mit allen seinen Konsequenzen – erkennbar war der evolutionäre innere Wandel des kapitalistischen Systems seit dem Ende 19. Jahrhunderts. Er wurde verursacht durch eine enorme Entwicklung der Produktivkräfte, insbesondere durch eine bis dahin nicht absehbare Zunahme der ökonomisch-produktiven Bedeutung der Wissenschaften, und betraf sowohl durch Konzentration und Zentralisation des Kapitals die Eigentumsverhältnisse als auch die Ablösung des Proletariats durch die wissenschaftlich-technische Intelligenz als Hauptproduktivkraft der Gesellschaft. Als dann aber diese Veränderungen doch wahrgenommen und mit dem Begriff „Imperialismus“ charakterisiert wurden, war die Marxsche Theorie bereits weitgehend dogmatisiert und zu unerschütterlichen Glaubenssätzen degradiert worden. An ihnen und an der Frage nach dem weiteren politischen Weg zerstritt sich die sozialistische Bewegung, insbesondere im Gefolge des Traumas des ersten Weltkrieges, an dem die Sozialistische Internationale zerbrach.

Evolution versus Revolution
Während die Sozialdemokratie eine national orientierte, evolutionäre Entwicklung zu einer neuen, sozialeren Gesellschaft anstrebte und in ihrer praktischen Politik praktizierte, favorisierte die in Deutschland unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ins Leben gerufene kommunistische Bewegung den internationalistisch-revolutionären Weg zum Sozialismus. Letzterer war bereits eingeleitet worden durch die russische Oktoberrevolution unter Lenins Führung. Lenin als Vordenker der russischen Bolschewiki hatte sich – wie die Sozialdemokratie – angesichts nicht zu übersehender gesellschaftlicher Veränderungen teilweise von Marxschen Vorstellungen über die Schaffung der neuen Gesellschaft gelöst. Er betrachtete den Imperialismus des frühen 20. Jahrhunderts als den unmittelbaren Vorabend des Sozialismus, welcher zu seiner Errichtung nur noch der proletarischen Machtergreifung bedürfte. Mit dieser meinte er - auf Grund der ungleichmäßigen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Widersprüche - nicht in einer von Marx gedachten internationalen Aktion, sondern in einem einzigen Land, nämlich Russland mit seiner besonders zugespitzen revolutionären Situation, im Zuge der Oktoberrevolution von 1917 beginnen zu müssen. Und er hoffte dabei auf die revolutionäre Nachfolge des westeuropäischen, insbesondere des deutschen Proletariats. Die ganz spezifischen, russischen Bedingungen dieses weltgeschichtlichen Ereignisses noch vor dem Ende des ersten Weltkrieges ließen den ersten praktischen Schritt zur Veränderung der Welt auf der Grundlage der Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels für viele Menschen in Deutschland und Westeuropa zu einem abschreckenden Beispiel werden. So kam es, dass im November 1918 die Deutschen, vom Weltkrieg traumatisiert, sich zwar zur Revolution aufrafften, um den Kaiser davon zu jagen und eine parlamentarische Republik zu errichten; doch zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzung, zum Antasten des Privateigentums an den Produktionsmitteln fehlte der deutschen Sozialdemokratie, ihrer Führung, die schon die politische Macht in der Hand hatte, wohl auch angesichts des russischen Beispiels, der Mut. Es wäre ein Schritt ins Ungewisse gewesen. Von nun an standen sich Kommunisten und Sozialdemokraten in Deutschland wie unversöhnliche Geschwister gegenüber. Erstere sahen in Letzteren Verräter an den Interessen des deutschen und internationalen Proletariats, Letztere in Ersteren Verräter an den Interessen des deutschen Volkes, das mehrheitlich eine Bolschewisierung Deutschlands durch die sich mit Lenin solidarisierende KPD befürchtete. Und je länger sich das Sowjetsystem in einem verzweifelten militärischen und ökonomischen Kampf gegen die innere und äußere Reaktion erfolgreich zur Wehr setzte, dabei alle Regeln eines bürgerlichen Parlamentarismus und einer bürgerlichen Wirtschaftsorganisation missachtend, desto tiefer wurden die Gräben zwischen deutschen Kommunisten und deutschen Sozialdemokraten. Denn die Kommunisten sahen eine Wiederholung der Vorgeschichte des Weltkrieges heraufziehen – worin sie sich, wie sich später zeigen sollte, nicht getäuscht hatten. Schon Lenin hatte 1918 wegen dieser Befürchtung die Unterschrift Sowjetrusslands unter den Diktatfrieden von Versailles verweigert.

Falsche Feindbilder
Erst die gemeinsame Erfahrung nationalsozialistischer Unterdrückung in den Konzentrationslagern ließ deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten wieder aufeinander zu gehen. Nach der Befreiung würde man die Gräben wieder zuschippen, schwörten sich die Gemarterten. Doch als dieser glückliche Moment endlich kam, hatte sich die Welt ein weiteres Mal gravierend verändert. Die Armeen des großen Diktators Stalin, dessen Terror in den Arbeitslagern Sibiriens inzwischen Millionen Sowjetbürger aller Klassen und Schichten zum Opfer gefallen waren – auch treue Kommunisten unter ihnen -, standen an der Elbe den westlichen Alliierten gegenüber. Und wieder waren da einerseits die Angst der einen vor einer sich für sie nun noch schrecklicher darstellenden Sowjetisierung Deutschlands und andererseits die Befürchtung der anderen (und hier meine ich nicht nur die deutschen Kommunisten), die Geschichte, diese furchtbare Vergangenheit könnte sich ein weiteres Mal wiederholen, wenn bzw. weil sich im Westen Deutschlands die Eigentums- und Machtverhältnisse der Gesellschaft nicht grundlegend veränderten. Schließlich fanden und standen sich Sozialdemokraten und Kommunisten in zwei verschiedenen deutschen Staatsgebilden wieder bzw. gegenüber, machtausübend weitgehend gestützt auf und in der Vertretung der hinter ihnen stehenden Supermächte. Wie diese waren sie beseelt von Ideologien, die aus verengten Blickwinkeln auf die Welt resultierten, die sachlichen Veränderungen in der Welt als ganze völlig ungenügend reflektierten und noch weniger verarbeiteten. Beide Ideologien beinhalteten daher eine falsche Vorstellung nicht nur vom jeweiligen Gegenüber, sondern auch vom Wesen der eigenen Existenzgrundlagen, der eigenen ökonomischen Verhältnisse. Und sie betrachteten sich als Feinde in einem Kampf auf Leben und Tod, hoch gerüstet mit einem Kernwaffenpotential, das ausgereicht hätte, um unseren Planeten vielfach zu vernichten. Ausgetragen wurde dieser Überlebenskampf von beiden Seiten auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens mit aberwitzigen Methoden und Folgen, darunter Gemeinheiten und Verbrechen ebenso wie – historisch gesehen - Lächerlichkeiten.

Die besondere Tragik dieser so viele Menschenleben und riesige materielle Opfer kostenden Auseinandersetzung bestand in ihrer Sinnlosigkeit. Diese wurde 1989/90 offenbar. Da zeigte sich nämlich – bei nüchterner Betrachtung -, dass die Menschheit Opfer eines jahrzehntelangen Kampfes von Gespenstern geworden war. Freilich, diese Nüchternheit, wir können auch sagen: Objektivität, ist all jenen nicht gegeben, welche die damaligen gesellschaftlichen Umbrüche zwischen Elbe und Pazifischem Ozean als einen Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus, als des Letzteren Untergang feiern oder bedauern. Denn was da über Jahrzehnte stattgefunden hatte, war – aus heutiger Sicht – nur die Erprobung zweier Wege aus der Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts in die heutige. Es war ein gewaltiges Experiment, bei dem sich beide Wege, beide Systeme, gegenseitig stark beeinflussten. Der wirtschaftlich unterentwickelte Osten hatte eine gewaltige ökonomische und militärische Herausforderung durch den industrialisierten Westen zu bestehen und schnallte dazu den Konsumtionsgürtel der Menschen extrem eng, gleichzeitig das Planungs- und Leitungssystem aufs Höchste zentralisierend. Seine anfänglichen Erfolge trugen zu den evolutionären Wandlungen im Interesse der Systemstabilität des Westens bei (Stichwort: Ludwig Erhards „soziale Marktwirtschaft“). So schaffte es dieser, seine nationalen und sozialen Gegensätze nicht ausufern zu lassen und der Entwicklung der Produktivkräfte durch evolutionäre Veränderung der Produktionsverhältnisse immer wieder neue Entfaltungsräume zu eröffnen. Im Osten dagegen wurde die Überzentralisierung der ökonomischen Planung und Leitung in einer starren, weitgehend aus Moskau gesteuerten Partei- und Staatsbürokratie im Laufe der Zeit zu einem lähmenden Hemmschuh des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und seiner breiten ökonomischen Anwendung. Ihren entwürdigenden Ausdruck fand sie in der weitgehenden Bevormundung der Bürger durch die (so gut wie) allein regierende Partei und ihren Staat. Was da also kurz vor dem Ende des 20. Jahrhunderts im Ostblock vor sich ging, war eine von der Führung eingeleitete Reform des Systems der Wirtschaftsleitung, um im ökonomischen Wettlauf mit der übrigen, vor allem der westlichen Welt Schritt halten zu können. Da man aber jahrzehntelang die Freiheit der wirtschaftswissenschaftlichen und der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung überhaupt unterdrückt und in das enge Korsett von Dogmen gezwängt hatte, die auf Aussagen von Marx und Engels aus dem 19. Jahrhundert beruhten, war der plötzliche Reformwille eines engen Führungszirkels der Kommunisten völlig ungenügend theoretisch untermauert. So ist es nicht verwunderlich, dass man nun nicht zu mehr in der Lage war, als das westliche, für effektiv, also sinnvoll gehaltene Modell weitestgehend zu kopieren.

Dogmen überholter Theorien
Die Ironie der Geschichte wollte es, dass die „bürgerliche“ Wirtschaftswissenschaft des Westens, die auch sozialdemokratisches Denken prägte, jahrzehntelang keineswegs mehr zu leisten vermochte als ihre östliche Gegenspielerin. Auch sie begnügte sich damit, Dogmen anzubeten und zu aktualisieren, insbesondere die Idee des schottischen Ökonomen Adam Smith aus dem 18. Jahrhundert von der unsichtbaren Hand des Marktes, die Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht bringe. Theoretiker wie Milton Friedman und Eugene Fama, Wegbereiter des „Neoliberalismus“, verfestigten mit der Hypothese der effizienten Märkte, wonach der Markt im Gegensatz zum Menschen immer rational handele, nicht nur Smiths These von der regulierenden Funktion des Marktes, sondern dehnten sie über den von Smith im Auge gehabten Warenmarkt hinaus auch noch auf die inzwischen entstandenen Finanzmärkte aus. Die Folgen dieser außerordentlichen wissenschaftlichen Fehlleistung bekam die ganze Welt mit der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1929 zu spüren, in die sie sich seit 2007 gestürzt sieht.

Festzustellen ist also: Politökonomisches Versagen der Gesellschaftswissenschaften in Ost und West über Jahrzehnte hinweg, weil gewesene Wahrheiten auf beiden Seiten dogmatisch zementiert wurden, möglicherweise, und weitgehend unbewusst, aus dem ideologischen Konflikt beider Seiten heraus, infolge des Gegensatzes zweier Idealvorstellungen: der vom freien, privaten Individuum und seinem eigenverantwortlichen Handeln auf einem freien Markt einerseits und der von einer Gesellschaft, in welcher sich der Einzelne dem gesamtgesellschaftlichen, von einer zentralen Führung formulierten Ziel und Interesse unterzuordnen hat, andererseits. Die Einen glaubten an das Heil aus privater Marktwirtschaft, die Anderen an die Überwindung aller Übel durch Planwirtschaft auf der Grundlage vergesellschafteten Eigentums an den Produktionsmitteln. Beide Vorstellungen dürfen heute für jedermann deutlich sichtbar als gescheitert betrachtet werden. Dass aber gerade im Osten dieses eigene Scheitern zuerst begriffen und eingestanden wurde (wenn auch nicht von der Wissenschaft, sondern von der politischen Führung), dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass hier die Gesellschaftswissenschaft unmittelbar zum Legitimationsinstrument der allmächtigen und alles entscheidenden, aber unter dem Druck eines realwirtschaftlichen Erfolgsmankos stehenden politischen Führung degradiert worden war, welche aber immerhin die Initiative ergreifen und die Reform einleiten konnte. Dort im Westen aber – im unerschütterlichen Glauben an ihre eigene und jedes Individuums zu verteidigende „demokratische Freiheit“ – hatte sich die Politische Ökonomie selbst prostituiert. Und bis heute hat sie ihre Scheuklappen nicht abgelegt. Weder sie noch die Politik noch die Praktiker in Wirtschaft und Finanzsystem sind in der Lage, auch nur Ansätze von weitreichenden Reformen ernsthaft ins Auge zu fassen. Denn sie verstehen das System nicht und sehen nicht seine Grenzen. Ihnen ist das Wissen um die inneren Zusammenhänge der Reproduktion ihrer Gesellschaft abhanden gekommen, weil sie schon lange die politische Ökonomie als Wissenschaft – in Ahnung der Konsequenzen - ad Acta gelegt haben, um sich auf „Handwerkliches“ zu beschränken, denn alles sollte möglichst so bleiben wie es war und ist. Wenige typische Beispiele mögen diese Feststellungen belegen.

„Versuch und Irrtum“ als Methode?
Im November 2008, kurz nach der Insolvenz des amerikanischen Bankhauses Lehman Brothers, wurde in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt eine „Luther-Konferenz“ anlässlich des 525. Geburtstages des Reformators veranstaltet, die sich mit aktuellen Fragen gerade auch auf wirtschaftlichem Gebiet befasste. Dort erklärten nicht nur kirchliche Würdenträger, sondern auch Vertreter der Bundestagsfraktionen, wie auch Minister Wolfgang Schäuble und der frühere amerikanische Botschafter in Deutschland, Kornblum, vorgestellt als Finanzexperte, sie alle seien von der Krise völlig überrascht worden. Nie hätten sie verstanden, was da im Weltfinanzsystem eigentlich vor sich ging. Kornblum meinte sogar, die Finanzblase hätte doch auch etwas Gutes gehabt: Ohne sie hätte Deutschland sich nicht zum Exportweltmeister aufschwingen können, und die deutsche Autoindustrie habe von ihr profitiert. Die hereingebrochene Krise sei nur ein Wirbelsturm. Wenn der vorbei sei, werde man weitermachen. Wolfgang Schäuble, heute Finanzminister, ergänzte: Die derzeitige Krise sei zwar ein großes Unheil und Folge einer in der menschlichen Natur liegenden Maßlosigkeit, aber niemand sei von Fehlern und Irrtümern frei. Immerhin hätte man doch in Amerika einen guten Zweck verfolgt, als der amerikanische Gesetzgeber bestimmte Vorschriften für Kreditvergaben änderte, damit mittellose Migranten leichter ans Geld kämen, um ein Eigenheim zu bauen. Und so rief er denn dazu auf, weil es kein Patentrezept gebe, weiter im Vertrauen auf Gott nach der Methode „Versuch und Irrtum“ (wörtlich!) den richtigen Weg in die Zukunft zu suchen. Die freiheitliche Ordnung lebe eben von ihrer Unvollkommenheit.

Alan Greenspan, ehemaliger Chef der US-Notenbank und einst Anhänger der Theorie der rationalen Märkte, gestand, ebenfalls im Herbst 2008, in einer Anhörung des US-Repräsentantenhauses den Fehler, zu sehr an die Markteffizienz geglaubt zu haben. Als wichtigster Zentralbanker der Welt dürfte er den größten Schaden angerichtet haben, der sich auf die Idee vom effizienten Markt zurückführen lässt, meinten Kommentatoren. Noch bevor die Immobilienblase in den USA platzte, sah Greenspan, dass sich der Markt überhitzt hatte. Doch er wollte die Spekulationen nicht durch höhere Zinsen bremsen. Seine damalige, von der meinungsbildenden Wissenschaft bestimmte Begründung: Niemand könne den Markt beeinflussen - auch nicht die Zentralbank.

Dass das ökonomische und politische Establishment der „westlichen“ Welt auch nach diesem vorerst letzten großen Desaster nichts über das veränderte Wesen der modernen Ökonomik hinzugelernt hat, ist aus Berichten ein gutes Jahr nach der Lehman-Pleite über neue Rekorderträge der „Finanzindustrie“ ersichtlich. „Der Grund“, hieß es beispielsweise im „Handelsblatt“, Düsseldorf: „Geld hatten die Investoren dank der niedrigen Leitzinsen und der ersten Liquiditätsspritzen der Notenbanken in Europa und den USA schon im schwarzen Herbst 2008 reichlich, und im Jahr 2009 wurde es dank der konzertierten Rettungsprogramme immer mehr. Dieses Geld musste irgendwo angelegt werden. Und dazu boten sich Firmen- und Schwellenländer-Bonds an wie nie: Sie lockten mit historisch hohen Renditen und waren damit attraktiver als sichere Staatspapiere aus Deutschland oder den USA. Denn die … warfen nur noch wenig ab.“ Was hatten also die staatlichen Finanzspritzen zur Rettung von Banken in aller Welt bewirkt? Sie finanzierten von neuem die weltweite Finanzspekulation als Krisenursache, anstatt sie zu bekämpfen.

Reformstau – Herausforderung nicht nur der LINKEN
Von Reformbewegung also keine Spur! Und wo sie doch zu entstehen „droht“, sorgt das „demokratische System“ dafür, dass sich nichts ändert: In einem Grundsatzurteil zur Wahlkampffinanzierung hat das Oberste Gericht der USA zu Jahresbeginn 2010 die Einflussnahme von Unternehmen auf die Politik erheblich erleichtert. Mit fünf gegen vier Stimmen urteilten die Richter, dass Firmen (und auch Gewerkschaften) künftig keinen Beschränkungen bei der Finanzierung der Wahlwerbung von Kandidaten für die Präsidentschaft oder den Kongress unterliegen. Zwar kritisierte Präsident Barack das Urteil mit der Feststellung, der Supreme Court habe damit grünes Licht gegeben „für einen neuen Ansturm von Lobby-Geldern auf unsere Politik“, doch welches Gewicht hat schon die Klage des gewählten Präsidenten, das sei „ein großer Sieg für die großen Ölkonzerne, die Wall Street, die Versicherungskonzerne und andere mächtige Interessengruppen, die jeden Tag in Washington ihre Macht spielen lassen, um die Stimmen der normalen Amerikaner zu übertönen“, wenn er damit als Gallionsfigur auf die Idee kommt, jahrhundertealte Dogmen überdenken und Gewohnheiten aufbrechen zu wollen.

Die Beispiele deuten an, wie groß die Herausforderungen sind, vor denen die Linke als Bewegung für eine Reform der heutigen weltweiten gesellschaftlichen Verhältnisse sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht steht. Denn noch in viel größerem Maße als zu Zeiten von Karl Marx und Friedrich Engels gilt heute infolge der unvergleichlich intensiveren Globalisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, dass wesentliche Veränderungen internationaler bzw. international abgestimmter Entscheidungen und Aktionen bedürfen. Dies aber nicht mehr, wie es vor anderthalb Jahrhunderten logisch zu sein schien, als revolutionäre Aktion eines internationalen Proletariats, sondern als weitgehend bewusster, wenn auch evolutionärer Entwicklungsprozess des politischen, juristischen und geistig-kulturellen „Überbaus“ der Gesellschaft durch die Bürger dieser Welt. Denn die Ökonomik der Gesellschaft, deren Produktions-, Finanz- und Eigentumsbeziehungen, aber vor allem auch ihre Verantwortung für die Ökologie – ihre natürlichen Existenzbedingungen -, sind internationalisiert. Nichts daran ist – eben wegen seiner globalen Bedeutung - mehr Privatsache von Individuen, die nach persönlichem Ermessen und geleitet vom Eigennutz entscheiden. Darum muss die Gesellschaft durch ein Regelwerk sichern, dass das Handeln des Einzelnen als Individuum und „in gesellschaftlicher Funktion“ nicht dem Interesse und den Normen der Gemeinschaft zuwider läuft. Ein solches Regelwerk existiert ansatzweise bereits – in nationalen wie internationalen Grundsätzen, Normen, Vereinbarungen, Absprachen und Gesetzen aller Art. Seine Herausbildung war ein bisher weitgehend spontaner, evolutionärer Prozess. In der Zukunft bedarf dieser dringend einer bewussten Intensivierung, damit die großen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, zu bewältigen sind. Zu den wichtigsten gehören dabei die Ökologie, die Beseitigung von Hunger und Armut, die Harmonisierung von Produktion und Verbrauch durch Überwindung der Arbeitslosigkeit als weltweites gesellschaftliches Problem sowie durch ein reguliertes Geld- und Finanzsystem.

Voraussetzung dafür, dass ein solcher geistig-kultureller, politischer und juristischer, den bereits gegebenen Bedingungen in der ökonomischen Basis der Gesellschaft entsprechender Überbau weiter zielgerichtet gestaltet werden kann, ist ein neues, auch theoretisch fundiertes ökonomisches Denken. Erforderlich ist eine Betrachtungsweise der Ökonomik als (heute weltweit verflochtener) Prozess der materiellen und geistig-kulturellen Reproduktion der Menschheit. Der muss - als „persönliches Streben jedes Einzelnen im gesellschaftlichen Interesse“ - von der Gesellschaft als ganze gesichert werden. Der Einzelne muss begreifen, dass er (tatsächlich!) nicht mehr privat, „abgesondert“, existiert und lebt, sondern – zwar persönlich frei, also frei in seinen Entscheidungen was seine Person betrifft – als Teil der menschlichen Gemeinschaft, deren Regeln und Geboten sein Handeln nicht zu widersprechen hat. Es handelt sich hierbei um die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und dieser gegenüber dem Individuum in dem Sinne, dass der Einzelne die Normen der Gesellschaft und diese die Rechte des Einzelnen zu respektieren hat. Die Freiheit des Einzelnen und ihre Beschränkung durch gesellschaftliche Normen müssen – auch im Bereich der Ökonomik - in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, das eine dauerhaft harmonische Entwicklung sichert. Ein neues, von bisherigen Dogmen befreites Verständnis von Plan (im Sinne gesellschaftlich gesetzter Normen, Regeln und Grenzen) und Markt (im Sinne des eigenverantwortlichen Handlungsraums der Individuen) als einer notwendigen Einheit ist dafür ideologische Voraussetzung.

Ferner bedarf es der Einsicht, dass die Entwicklung des Geldsystems – und damit des Wesens des Geldes – im vorigen Jahrhundert dazu geführt hat, dass Geld nicht mehr unmittelbarer (sachlicher) privater Reichtum ist, sondern, wie alle Finanzwerte, einen persönlichen Anspruch auf Teilhabe an dem gesellschaftlich (von der ganzen Gesellschaft) erzeugten Reichtum in allen seinen Formen ausdrückt; weiterhin, dass der Umgang mit diesem Geld nicht mehr ausschließlich Privatsache des Einzelnen ist, sondern, weil es über den Markt die Vermittlung von Produktion und Konsumtion der ganzen Gesellschaft steuert, gesellschaftlichen Regeln unterliegen und in Grenzen gehalten werden muss, damit Entscheidungen und Handlungen Einzelner im Rahmen des „Marktgeschehens“ nicht zu Wirtschafts- und Finanzkrisen führen.

Schließlich ist zu begreifen, dass sich unter den heutigen Bedingungen des Geld- und Finanzsystems (ökonomisch gesehen, nicht juristisch – dies klar zu regeln ist eine der zahlreichen Aufgaben der Zukunft!) die Stellung der Menschen im Reproduktionsprozess der Gesellschaft wie auch zu den Produktionsmitteln verändert hat. Auch hier ist alles Private dem Wesen nach abhanden gekommen (und weitgehend auch den Erscheinungen nach). Der Staat als gesellschaftlicher Interessenvertreter beschränkt schon heute die Befugnisse von Unternehmern und Managern mit zahlreichen Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften und greift massiv, unter anderem mit finanziellen Mitteln, in den Reproduktionsprozess ein, wenn das Gesamtsystem in Gefahr kommt. Ein weites System von Versicherungen aller Art bewirkt, dass die reale materielle Verantwortung und das Erfolgsrisiko, das jeder Entscheidung, auch eines Einzelnen, innewohnt, letztlich von der ganzen Gesellschaft getragen werden.

So zeigt sich also bei genauer Betrachtung, dass wir es schon lange nicht mehr mit einer wirklichen Privatwirtschaft zu tun haben. Bei genauem Hinsehen handeln Alle „für die Gesellschaft“, ausgestattet mit bestimmten Entscheidungskompetenzen für ihr Handlungsfeld, für den Umgang mit den eingesetzten finanziellen, sachlichen und personellen Ressourcen. Das Problem der heutigen Gesellschaft besteht darin, dass sich die Akteure bei diesen Entscheidungen, in diesem Handeln von fehlorientierenden Prinzipien und Kriterien in einem unangemessenen Kompetenzrahmen leiten lassen. Seine Ursache liegt vor allem im Versagen der Wirtschaftswissenschaft in der westlichen Welt während des ganzen vorigen Jahrhunderts. Sie hat – möglicherweise als Gegenreaktion auf die zentralistische Planwirtschaftstheorie im Ostblock – die Lehre von der privaten Marktwirtschaft zu einem quasireligiösen Glaubensdogma erhoben und die Illusion erzeugt, Vermehrung von Geld- und Finanzvermögen sei gleichbedeutend mit wachsendem Reichtum und könne daher Hauptkriterium ökonomischer Entscheidungen und wirtschaftlichen Handelns sein.

Linke, sozial orientierte Wirtschaftspolitik setzt daher voraus, durch theoretisch begründete Aufklärung aller Schichten der Gesellschaft ein allgemeines ökonomisches Umdenken zu bewirken, das – möglichst in einer Wirtschafts- und Sozialverfassung fixiert - die gegenwärtigen Illusionen und Barrieren ökonomischen Denkens und Handelns überwindet, den veränderten ökonomischen Verhältnissen in der Welt entspricht und so der Verantwortung für eine harmonische Entwicklung der Weltgesellschaft gerecht wird. Ein solches Wirken entspricht sowohl den historischen Wurzeln der sozialistischen Bewegung als auch den heutigen realen Bedingungen und objektiven Bedürfnissen aller Menschen. Sie zu überzeugen und für Koalitionen zu gewinnen, sollte ein zentrales Anliegen linker Politik sein.

Vom Autor veröffentlichte Bücher: „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“ (Projekte-Verlag, Halle 2005, 500 S.); „Gesellschaft im Irrgarten“ (NORA-Verlag, Berlin 2009, 148 S.)

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