Freitag, 22. Oktober 2010

Alles Theater?

Gedanken zum Buch von H.-D. Schütt "Glücklich Beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR"


(Erschienen in "Das Blättchen", Nr. 2/2010 / Debatte)

So möchte man fragen, wenn man am Ende in des Autors Biographie liest: „1969 bis 1973 Studium der Theaterwissenschaften an der Theaterhochschule ‚Hans Otto‘ in Leipzig. Während dieser Zeit halbjähriges Praktikum am Landestheater Halle (Saale), Dramaturgie- und Regieassistenzen in Magdeburg und Gera.“ Dies alles beste Voraussetzungen für sein späteres Mitwirken an der Selbstinszenierung des „Staatstheaters DDR“ als Zentralratsmitglied des Jugendverbandes FDJ sowie als Chefredakteur von deren Sprachrohr „Junge Welt“? Oder Grundlage für seine Nach-Wende-Rolle als erbarmungsloser (Selbst-) Kritiker dieser versunkenen Bühne? Welchem Schütt dürfen wir glauben? Da wir doch offenbar aufs Glauben angewiesen sind! Dem ersten oder dem zweiten Sch.? Denn der gleiche ist er ja nicht mehr, wenn auch derselbe! Oder kann es sein, dass er ehrlich war und ist, man ihm also auch fürderhin vertrauen darf? Wie aber wäre dann ein so abrupter Sinneswandel, wie der Autor ihn uns schildert, zu erklären?

Schütt selbst analysiert seine Vergangenheit akribisch, beleuchtet sie in vielen Aspekten, blickt zurück auf viel Dienstliches und Persönliches, zieht auch Dritte heran, auf diese Weise „sein“ Problem verallgemeinernd, denn er war ja kein Einzelfall, fragt sich vorwurfsvoll nach dem Wieso und Warum, findet aber eigentlich keine, jedenfalls keine eindeutige Antwort. Eine solche gibt es wohl auch nicht. Denn eine Unmenge von Faktoren, Umständen bestimmt menschliches Denken und Handeln. Sie liegen in uns und außer uns. Wollen wir was wir denken, oder denken wir was wir wollen? – Eine Frage, die schon Schopenhauer beschäftigte und an der sich die Hirnforschung noch immer abarbeitet! Und egal, wie sie zu beantworten ist – welchen Sinn machen „Schuld“-Vorwürfe? Jeder Mensch ist ein Individuum, ausgestattet mit einer einmaligen Gesamtheit von genetischen Anlagen, durchbrechenden Eigenschaften und Charakterzügen, Erfahrungen, Kenntnissen, Lebensumständen, Arbeitsbedingungen, körperlichen und geistigen Fähigkeiten. All das bestimmt, was er wann denkt, will, tut, sagt, auch schreibt. Darüber urteilen, gar verurteilen? Ich kann es nicht und will es nicht. Ich lachte und lache noch über manches, was Menschen einst taten oder heute tun. Vieles ist mir gleichgültig, einiges ärgert mich, kann mich auch wütend machen. Die Welt – für mich als Zuschauer ein Theater! Aber niemand ist darin eben nur Zuschauer, alles ist - oft toternste, bittere – Wirklichkeit, mal zum Lachen, meist zum Weinen.

Was H.-D. Schütt anbelangt, so erbaue ich mich an dem „neuen“ Schütt, an Sprache und Inhalt so vieler seiner Beiträge und Werke, die zu schreiben und zu veröffentlichen er nun die veränderten Lebensumstände – viele nennen es Freiheit – nutzt. Und viele von diesen Vielen mögen das – „zurecht“ – ganz anders sehen, denn sie haben, jeder auf seine Weise, die Vergangenheit anders erlebt und durchlebt, andere Erfahrungen gemacht, vielleicht auch persönliche mit Schütt. Bei mir entdeckte ich nach der Lektüre seines nun vorgelegten Buches auch Dankbarkeit für mein, anderen Umständen entsprungenes Glück, nicht wie er solche Last der Vergangenheit tragen zu müssen. Auch stellte sich mir schließlich die Frage, ob nach dem nächsten großen, schon zu erwartenden Werte- und Meinungsumbruch je einer von den nun Tonangebenden in des Wortes mehrfacher Bedeutung eine so ehrliche, erbarmungslose Abrechnung mit seinem derzeitigen Denken und Tun vornehmen wird.

Hans-Dieter Schütt, „Glücklich Beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR“.
WJS Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-937989-53-2, 220 S.

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